Der Titel meines Vortrags rückt den komplexen Prozess des Verstehens in den Blick. Aus einer soziologischen Perspektive könnte Gesellschaft ohne wechselseitiges Verstehen nicht funktionieren. Menschen wären nicht handlungsfähig, wenn sie nicht davon ausgehen könnten, dass sie wechselseitig verstehen, was und warum sie selbst und andere tun und wie sie sich dabei aufeinander beziehen. In letzter Konsequenz würde die soziale Ordnung zusammenbrechen. Zugleich gerät das an gemeinsamen Routinen orientierte wechselseitige Verstehen in sozial hoch differenzierten, modernen Gesellschaften fortlaufend in die Krise, weil unsere selbstverständlichen Kommunikationsroutinen immer wieder durch neue und fremde Erfahrungen irritiert werden. Diese Krisenerfahrung ist ein alltäglicher Vorgang, den wir meistens gar nicht bewusst registrieren, weil sich die kleinen Irritationen unserer eingespielten Handlungsabläufe in der Regel schnell und unauffällig korrigieren lassen. Die Begriffe „Krise“ und „Routine“ im Titel meines Vortrags umfassen aus Sicht einer verstehenden Soziologie deshalb eine ganze Bandbreite von sozialen Interaktionen: vom reibungslosen Austausch über kurze Momente des Stolperns bis hin zum Zusammenbruch der Verständigung oder auch der Verweigerung, sich eine unverständliche Situation gemeinsam mit anderen zu erschließen. Fremdes und Eigenes oder Fremdes und Vertrautes sind dabei nicht statisch. Welche Bedeutungen wir dem Fremden und Vertrauten zuschreiben, handeln wir fortlaufend aus und solche Bedeutungen wandeln sich. Das bedeutet, dass das sogenannte Fremde eine gesellschaftliche Konstruktion ist.

Bevor ich unsere aktuellen gesellschaftlichen und individuellen Krisenerfahrungen durch diese theoretische Brille befrage, greife ich ein literarisches Beispiel auf, in dessen Mittelpunkt die Bewältigung einer einschneidenden Krisenerfahrung steht. Ich zitiere kurz aus dem Roman von Marlen Haushofer „Die Wand“. Die Ich-Erzählerin des Romans reflektiert in ihrem Tagebuch, wie sie sich dadurch, dass sie als einziger Mensch ihr Überleben im Wald organisieren muss, verändert hat. Sie schreibt:

„Ich war sehr mager geworden. [Im] Frisierspiegel sah ich manchmal verwundert meine neue Erscheinung. Mein Haar, das stark gewachsen war, hatte ich mit der Nagelschere kurz geschnitten. Es war jetzt ganz glatt und von der Sonne gebleicht. Mein Gesicht war mager und gebräunt und meine Schultern waren eckig, wie die eines halbwüchsigen Knaben. Meine Hände, immer mit Blasen und Schwielen bedeckt, waren meine wichtigsten Werkzeuge geworden. Ich hatte die Ringe längst abgelegt. Wer würde schon seine Werkzeuge mit goldenen Ringen schmücken.“ Nach weiteren Reflexionen über die Veränderungen ihres Körpers stellt sie fest: „Wenn ich heute an die Frau denke, die ich einmal war, die Frau mit dem kleinen Doppelkinn, die sich sehr bemühte, jünger auszusehen, als sie war, empfinde ich wenig Sympathie für sie. Ich möchte aber nicht zu hart über sie urteilen. Sie hatte ja nie die Möglichkeit, ihr Leben bewusst zu gestalten. Als sie jung war, nahm sie, unwissend, eine schwere Last auf sich und gründete eine Familie, und von da an war sie immer eingezwängt in eine beklemmende Fülle von Pflichten und Sorgen.“ (Haushofer 1968/1985, S. 82f.)

Die Verfasserin dieser Zeilen entwirft einen starken Kontrast: zwischen, aus ihrer Sicht, übermächtigen gesellschaftlichen Zwängen auf der einen Seite und ihrer äußeren wie inneren Veränderung durch eine radikal veränderte Lebenssituation auf der anderen Seite. Ihre Veränderung ist die Folge einer unausweichlichen Konfrontation mit sich selbst und ihren Möglichkeiten, in enger Beziehung zu mehreren Tieren, zu überleben. Das zuvor Vertraute und vor allem das Fraglose, ihr angepasster Lebensentwurf vor der Isolation, kommt ihr im Rückblick befremdlich vor.

Haushofers Roman veranschaulicht, wie alltägliche Routinen zerbrechen und neue Handlungsmöglichkeiten entwickelt werden müssen – den Zwang, dem sie in ihrem neuen Alltag unterliegt, reflektiert die Ich-Erzählerin in der von mir ausgewählten Passage nicht. Stattdessen hinterfragt sie Rollenerwartungen, die sie in der Vergangenheit selbstverständlich erfüllt hat. Der eigene Lebensentwurf als Frau wird rückblickend „mit wenig Sympathie“, zugleich aber auch als unausweichlich beurteilt. So stellt sie schließlich fest: „Nur eine Riesin hätte sich befreien können“ (S. 83).

In diesen Tagebuchnotizen wird spürbar, was Maya Nadig aus Sicht der Ethnopsychoanalyse als einen „sozialen Tod“ bezeichnet: „Es ist ein Prozess, „(…) in dessen Verlauf klassen-, kultur- und zum Teil geschlechtsspezifische Rollenidentifikationen zerfallen, so daß [sic!] unbewußte [sic!] Identifikationen und die dazu gehörigen Werte bewußt [sic!] werden“ (Nadig 1986, 43).

Ich gehe an dieser Stelle nicht weiter auf die psychoanalytische Brille Nadigs ein. Diesen Aspekt greife ich später weiter auf. Worauf ich mit dem Bild vom sozialen Sterben an dieser Stelle aufmerksam machen möchte, das ist die Einsicht, dass gesellschaftliche Krisenerfahrungen, in denen das Vertraute uns fremd wird, grundlegend ambivalent sind: Krisenerfahrungen bergen Chancen, weil sich reflexive Zwischenräume öffnen, in denen eingeschliffene Routinen auf den Prüfstand gestellt werden. Sie rufen aber auch rigide Abwehrhaltungen gegenüber fremden und bedrohlichen Erfahrungen auf den Plan – das wissen wir nicht erst seit der Pandemie oder seit sich gesellschaftliche Diskurse über Flucht, Migration und Krieg immer wieder zuspitzen.

Vor diesem Hintergrund haben die veränderten Lebens- und Arbeitsbedingungen während der Pandemie von Anfang an starke und teilweise absolut vorgebrachte Einschätzungen zum Niedergang des Sozialen in der Gesellschaft hervorgebracht. Solche negativen Diagnosen stehen in einem polarisierten Spannungsverhältnis zur Überbetonung von Innovationen und Chancen durch Digitalisierung. Ich skizziere das im Folgenden kurz am Beispiel meines eigenen Arbeitsfeldes, der universitären Lehre und Forschung.

Digitale Lehre wurde und wird einerseits als flache, unvollständige Lernsituation bewertet, die Studierende nicht umfassend erreicht. Die Prognose lautet: Wir verlieren die Studierenden. Andererseits wird digitale Lehre als Innovations- und Inklusionsschub idealisiert. Dann lautet die Prognose: Wir können uns noch besser vermitteln und mehr Studierende erreichen.

Sozialforschung, insbesondere die qualitative Sozialforschung, wird als grundlegend gefährdet eingeschätzt. Bestimmte Forschungsmethoden, z.B. Interviews, funktionieren aus dieser Sicht nur dann angemessen, wenn körperliche Ko-Präsenz möglich ist. Dies wird auch für die interpretative Analyse von Daten angenommen, die ebenfalls nur in Ko-Präsenz die notwendige Tiefe erreichen würde. Im Gegenzug zu diesen, theoretisch differenziert begründeten Einschätzungen, wird Digitalisierung von anderen Stimmen als Zukunftschance für eine unkomplizierte Ausweitung von Forschungskommunikation, inklusive der leichteren Gewinnung von Untersuchungsteilnehmer*innen, eingeschätzt.

Arbeitstreffen und Gremiensitzungen werden als kalte, sachbezogene Veranstaltungen ohne soziale Bindungen erlebt (beklagt wird der Niedergang des sozialen Zusammenhalts). Die Antithese dazu lautet, dass digitale Sitzungen die Überwindung ausufernder Sitzungskulturen ermöglichen (als eine sinnvolle Rationalisierung zeitraubender Rituale).

Dabei handelt es sich in allen Fällen zumeist um unsere eigenen Alltagsbeobachtungen und Erfahrungen, in einer Situation, in der es nicht einfach ist, auf Abstand zu gehen, um unsere ›gefühlte Evidenz‹ zu fundieren. Gegenwärtig haben wir es deshalb häufig mit alltagstheoretischen Verallgemeinerungen von hoch spezifischen sozialen Situationen zu tun, die genauer zu untersuchen noch aussteht. Solche generellen Einschätzungen sind zudem, das kann ich zumindest für mich selbst belegen, eng mit unseren eigenen Vorlieben und Idiosynkrasien verbunden. So hatte ich beispielsweise vor Kurzem ein Flurgespräch mit einer Kollegin. Sie meinte, dass schwierige Situationen in Präsenz einfacher aufgefangen werden könnten, weil die informelle Kommunikation drum herum solche Situationen stabilisieren würde. Ich hielt ohne lange nachzudenken dagegen, dass informelle Gespräche Konflikte und Polarisierungen auch weiter verschärfen könnten. So lagen wir beide richtig. Mir wurde im Anschluss an diesen Austausch erneut deutlich, dass unsere Diagnosen zur Veränderung sozialer Beziehungen unter dem Einfluss von Lock Down und Home Office notwendigerweise ausschnitthaft sind. Hinzu kommt, dass wir nach verallgemeinerbaren Einschätzungen einer Situation streben, in die wir selbst verwickelt sind. So ist es nicht leicht, eine Balance zwischen „Engagement und Distanzierung“ (Elias 1990) zu finden, die es erlaubt, Abstand zu naheliegenden Einschätzungen herzustellen und immer wieder neu hinzuschauen. Vorläufig und ausschnitthaft sind unsere Diagnosen zu den möglichen Veränderungen sozialer Beziehungen durch die Digitalisierung von Kommunikation auch deshalb, weil es nicht leicht ist, eine Situation zu analysieren, die uns ständige Handlungsentscheidungen im Großen wie im Kleinen abfordert: Riskieren wir eine Veranstaltung in Präsenz? Wer wird durch dieses Format ausgeschlossen?

Aus meiner Sicht sind generalisierende Einschätzungen zum Charakter und zu den gesellschaftlichen Folgen von physischem und interaktivem Abstand während der Pandemie vor diesem Hintergrund eher mit Zurückhaltung zu betrachten und mit Bezug zu den unterschiedlichen sozialen Kontexten, aus denen sie stammen, zu reflektieren. Ganz sicher aber hat die vollkommen fremde Situation unsere vertrauten Handlungsroutinen in Krisen versetzt. Dies gilt auch für den vorsichtigen Weg zurück zu vertrauten, mittlerweile fremd gewordenen Routinen, die wir außerdem nicht bruchlos wiederaufnehmen können.

Intersubjektives und intrasubjektives Verstehen als Näherungsverhältnis

Im Folgenden werden Prozesse des wechselseitigen Selbst- und Fremdverstehens grundlegend betrachtet (vgl. hierzu ausführlicher Bereswill 2003, 2010). Das erlaubt es, mit mehr Abstand auf die Frage zu schauen, was die Verschiebungen von sozialen Interaktionen in digitale Räume für das interaktive Wechselspiel des Verstehens bedeuten.

Das Begriffspaar Selbst- und Fremdverstehen im Titel des vorliegenden Beitrags verweist darauf, dass wir als Menschen grundlegend auf ein Gegenüber angewiesen sind, um uns selbst wahrzunehmen. Selbst- und Fremdverstehen ist eine ständige Wechselbeziehung von eigenen und fremden Erwartungen und Erwartungsunterstellungen, gegenseitigen Versicherungen und Irritationen. Subjektivität ist das Ergebnis von Intersubjektivität und Verstehen beinhaltet die Fähigkeit zum Perspektivwechsel. Nur dann bleiben Fremdes und Vertrautes in Bewegung und werden nicht eingefroren und auf stereotype Zuschreibungen reduziert.

In sozial hoch differenzierten Gesellschaften verlaufen soziale Interaktionen über weite Strecken rollenförmig. Dabei verlassen wir uns in der Regel darauf, dass andere Menschen unsere Interaktionsangebote verstehen und sich als kommunikativ anschlussfähig erweisen. Dieses Vertrauen basiert darauf, dass Verstehen eine wechselseitige Interpretationsleistung ist, auf deren Gelingen wir uns in der Regel fraglos verlassen. So ging Max Weber (1922/1980), dem wir grundlegende Überlegungen zu einer verstehenden Soziologie verdanken, bereits vor 100 Jahren davon aus, dass Menschen sich in ihrem sozialen Handeln aufeinander beziehen und dem, was sie und andere tun (oder auch lassen) einen Sinn zuschreiben. Gesellschaft ist aus dieser Sicht ein Handlungs- und Sinnzusammenhang, und Verstehen eine notwendige Interpretationsleistung, um soziale Beziehungen zu stabilisieren, aber auch weiter zu entwickeln.

Verstehen ist also ein wechselseitiger Austausch von Sinn. Wobei der subjektive Sinn, den Menschen ihrem eigenen Handeln zuschreiben, nie vollständig in den Interpretationsleistungen ihres Gegenübers aufgeht. Verstehen ist also immer ein unabgeschlossener Prozess, es handelt sich um ein Näherungsverhältnis. Mit Alfred Schütz (1971) gesprochen, wird subjektiv gemeinter Sinn aus der Fremdperspektive immer nur annähernd und niemals vollständig erfasst. Deshalb bezeichnet er subjektiven Sinn als einen „Limesbegriff“, also als einen Grenzwertbegriff. Unsere Gewissheit, sich wechselseitig gut und richtig zu verstehen, beruht demnach auf typisiertem Wissen über soziale Zusammenhänge, über die Erwartungen anderer und über gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen.

Die wissenssoziologische Gesellschaftstheorie, deren Ansätze sich auch an den Arbeiten von Schütz orientieren, lenkt den Blick darauf, dass und in welcher Weise solche Ordnungsvorstellungen durch Institutionen und im Generationenverhältnis tradiert und zugleich fortlaufend neu ausgehandelt werden. (Berger/Luckmann 1966/2004). Prozesse des Verstehens sind demnach an gemeinsame soziale Wissensbestände geknüpft. Solches Wissen wird im wechselseitigen Interpretationsprozess zu geteiltem sozialen Sinn verdichtet. Wissen, deuten und verstehen sind eng gekoppelt. Fremdes und Vertrautes sind aus diesem Blickwinkel gesellschaftliche Konstruktionen. Solche Konstruktionen sind stabil und zählebig und trotzdem auch wandelbar. Im Anschluss an diese Perspektive ist Verstehen an die Symbolisierungs- und Deutungsfähigkeit des Menschen gebunden, wofür Intersubjektivität und die Fähigkeit zum Perspektivwechsel fundamental sind (Mead 1934/1975). Verstehen ist also an Empathie gebunden.

Zugleich werden die Grenzen des Verstehens greifbar, indem wissensbasierte wechselseitige Typisierungen nicht identisch mit dem subjektiven Sinn sind, die Alter oder Ego ihrem eigenen Handeln zuschreiben. Die Leistung, zu verstehen, liegt also in der Fähigkeit, das Näherungsverhältnis, Intersubjektivität als Grenzwert, auszuhalten und auszugestalten. Verstehen ist aus dieser Sicht ein unabgeschlossener, offener Prozess, der sich einer letztgültigen Validierung entzieht.

Verstehen ist aber auch eine fortlaufende Pendelbewegung zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmungen. Dieses Bild des hin und her Schwingens zwischen Eigenem und Fremden betont die Verschränkung zwischen dem inneren Erleben von einzelnen Menschen und ihren intersubjektiven Austauschprozessen. Verstehen ist demnach auch eine intrasubjektive Leistung, als lebenslange Aneignung und Verarbeitung von sozialen Interaktionen.

Aus diesem psychoanalytisch fundierten Blickwinkel rückt die Bedeutung von Affekten in den Blick. Reagiert jemand erschrocken, zornig, fasziniert auf eine unbekannte oder auch auf eine allzu vertraute Situation – wie äußern sich diese Reaktionen? Verstehen ist demnach nicht ausschließlich kognitiv-wissensbasiert. Es wird auch durch Affektimpulse und emotionale Reaktionen gelenkt.

Diese Perspektive rückt häufig erst dann in den Fokus von sozialwissenschaftlichen Reflexionen, wenn Verstehen verweigert wird oder Nicht-Verstehen dominiert, beispielsweise mit Bezug auf Vorurteile und menschenfeindliche Ressentiments. Das ist aber nur ein Blickwinkel, und ich möchte deshalb kurz auf ein Beispiel für eine grundlegende psychoanalytisch fundierte Auffassung von Fremdverstehen eingehen.

Diese Auffassung lässt sich sehr gut an Forschungen der Ethnopsychoanalyse nachvollziehen. Ich nenne hier beispielhaft die Arbeiten von Maya Nadig, auf die ich mich eingangs schon bezogen habe. In ihrer in den 1980er Jahren erschienenen Studie „Die verborgene Kultur der Frau“ (1986) dokumentiert die Ethnologin und ausgebildete Psychoanalytikerin ihre eigenen Reaktionen und Konflikte in der Feldforschung. Sie untersucht ihre höchst persönlichen Ängste und Aggressionen als Übertragungsreaktion auf die sozialen Konflikte im Feld (sie forscht in einem Dorf in Mexico zur Situation der indigenen Frauen).

Nadiqs Studie veranschaulicht, wie Introspektion, also die Selbstbeobachtung der eigenen affektiven Impulse und emotionalen Reaktionen und die Deutung dieser Selbstbeobachtung zu einem tieferen Verständnis der sozialen Situation im untersuchten Forschungsfeld beitragen kann. Im Fokus steht also nicht ihre individuelle psychosoziale Krise, sondern die Entschlüsselung dieser Krise mit dem Ziel, eine fremde gesellschaftliche Situation zu entschlüsseln. So reflektiert die Forscherin beispielsweise ihre heftigen Schuldgefühle im Umgang mit Armut, ohne dies auf eine Selbstbespiegelung zu reduzieren. Im Gegenteil, ihre Selbstbeobachtungen führen dazu, dass sie ihre Position als Privilegierte im Dorf offensiv thematisiert und sich in direkten Konflikt mit verschiedenen Akteur*innen und Interessenslagen begibt.

Mit Bezug zu den beiden, theoretisch sehr unterschiedlich positionierten Ansätzen zum Selbst- und Fremdverstehen lässt sich zusammenfassend festhalten: Wird Verstehen als eine intersubjektive Interaktions- und Interpretationsleistung konzipiert, rückt der Zusammenhang von sozialem Sinn und sozialer Ordnung in den Blick. Die intersubjektive Bedeutung von geteiltem Wissen und von Typisierungen für Prozesse des wechselseitigen Verstehens wird betont und dies verweist zugleich auf die Grenzen des Verstehens. Setzt Verstehen hingegen bei der Introspektion und den subjektiven Reaktionen von Menschen an, verschiebt sich der Fokus und Subjektivität, besser gesagt intra- und intersubjektives Konflikterleben, wird zum Ausgangspunkt der Entschlüsselung von Unverständlichem. Fremdverstehen setzt demnach Selbstbeobachtung und Selbstreflexion voraus. Verstehen ist auch aus dieser Perspektive ein Näherungsprozess – das gilt für die Grenzen des Selbst- wie für die des Fremdverstehens.

Ausblick

Die beiden theoretischen Stränge, die ich skizziert habe, regen grundlegende Fragen zum Krisenerleben in der Pandemie an. Sind intersubjektive Interpretationsleistungen grundlegend an die körperliche Ko-Präsenz von Menschen gebunden? Wenn ich diese Frage bejahe, nehme ich eine anthropologische Setzung vor, die das menschliche Interaktionsvermögen über alle sozialen Kontexte hinweg an bestimmte Bedingungen knüpft.

Werden Emotionen und Affekte und damit verbundene Übertragungsphänomene im digitalen Raum still gestellt? Wäre dies der Fall, würden wir nun schon seit mehr als zwei Jahren in einer emotional verflachten und verarmten Weise kommunizieren.

Ist wechselseitiges Verstehen grundlegend gefährdet, wenn soziale Interaktionen in den digitalen Raum verwiesen sind? Aus dem Blickwinkel der verstehenden Soziologie schließt auch hier die Frage an, ob körperliche Ko-Präsenz eine unverzichtbare Bedingung für soziale Interaktionen ist. Können wir uns gegenseitig nur erkennen und verstehen, wenn wir einander in die Augen schauen, statt uns als digitale Kacheln zu sehen?

Auf diese Fragen gibt es keine eindeutigen und abschließenden Antworten. Gesellschaftliches Zusammenleben unterliegt Veränderungen und Wandel ist immer widersprüchlich. Das gilt aus meiner Sicht auch für die Bewältigung der fremden und mittlerweile vertrauten Situation der Pandemie. Abstand zu halten bedeutet nicht, auf Abstand zueinander zu gehen. Soziale Nähe ist zudem schon längst nicht mehr auf analoge Räume begrenzt, das galt für viele Menschen weltweit, beispielsweise in transnationalen Familienzusammenhängen, schon lange vor der Pandemie.

Literatur

  • Bereswill, Mechthild (2010): Die Anderen und ich. In: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe (ZJJ), 21. Jg., 3/2010, S. 296-301.
  • Bereswill, Mechthild (2003): Die Subjektivität von Forscherinnen und Forschern als methodologische Herausforderung. Ein Vergleich zwischen interaktionstheoretischen und psychoanalytischen Zugängen. sozialer sinn. Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung, 3/2003, S. 515-536.
  • Berger, L. Peter/ Luckmann, Thomas (1966/2004): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt am Main.
  • Elias, Norbert (1990): Engagement und Distanzierung. Frankfurt am Main.
  • Haushofer, Marlen (1968/1985): Die Wand. Frankfurt am Main.
  • Mead, George Herbert (1934/1975): Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt am Main.
  • Nadiq, Maya (1986): Die verborgene Kultur der Frau. Frankfurt am Main.
  • Weber, Max (1980/1922): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen (herausgegeben von Johannes Winckelmann).
  • Schütz, Alfred (1971): Gesammelte Aufsätze. Bd. 1: Das Problem der sozialen Wirklichkeit. Den Haag.
Selbst- und Fremdverstehen zwischen Krisen und Routinen

Prof. Dr. phil. habil. Mechthild Bereswill

seit 2007 Professorin für Soziologie sozialer Differenzierung und Soziokultur an der Universität Kassel. Arbeitsschwerpunkte in Forschung und Lehre: Geschlechterverhältnisse und Geschlechterordnungen im Wandel, soziale Ungleichheit, soziale Probleme und soziale Kontrolle, qualitative Methodologien.

Selbst- und Fremdverstehen zwischen Krisen und Routinen