München (Hanser Verlag, 2020), 352 Seiten, 25,00 €.

Eine Leseempfehlung

1962 stirbt Rafaels Mutter nach langem Leiden, hingebungsvoll gepflegt von ihrem Ehemann Tuvia. Schon die ersten Zeilen des Romans konfrontieren mit dem Sehen und Wissen: „Jetzt, wo sie tot ist, sieht sie alles, was ich über sie gedacht habe“, so überlegt der 15-jährige Rafael. Ein Jahr später kommt Vera Nowak gemeinsam mit ihrer 17-jährigen Tochter Nina aus Jugoslawien nach Israel und siedelt sich an in eben jenem Kibbuz, in dem Tuvia und Rafael leben.

So beginnt der Roman, der sich an der Lebensgeschichte von Eva Panic-Nahir, einer Freundin des israelischen Autors, orientiert. Erzählt wird aus der Perspektive der Enkelin Gili, der gemeinsamen Tochter von Nina und Rafael. Eine Reise der drei Frauen nach Goli Otok steht im Mittelpunkt des Romans. Die Idee dazu wird am 90. Geburtstag der lebenszugewandten Vera geboren. Bei diesem Fest werden die familiären Verwerfungen spürbar. Grossman beschreibt sie in einfühlsamer und zugleich verstörender Präzision. Eine Ahnung bahnt sich ihren Weg, die Frauen dieser Familie haben ein schweres mentales Gepäck. Insbesondere Nina rückt in den Focus. Sie ist ruhelos, findet keinen Ort in dieser Welt, absichtlich lässt sie sich von Männern missbrauchen. Sie hat ihren Mann Rafael und die gemeinsame Tochter verlassen. Nina lebt nun am Polarkreis, ein kalter Gegenpol zum sonnigen Israel

Gili, Skriptgirl und Filmemacherin, beschließt, einen Film über das Leben ihrer Großmutter zu machen. Gemeinsam reisen die drei Frauen und Rafael nach Kroatien auf die Insel Goli Otok. Die Enthüllung einer tragischen Familiengeschichte führt in Veras Vergangenheit. Vera trifft eine existentielle und nicht nur für sie folgenreiche Entscheidung. Sie wird daraufhin jahrelang auf der vom Tito Regime installierten Gefangeneninsel Goli Otok inhaftiert. Ihre sieben Jahre alte Tochter Nina bleibt allein zurück.

Grossman lüftet das Familiengeheimnis, indem er sich zugewandt dem Seelenleben und der emotionalen Anstrengung der drei Frauen nähert. Dabei bleiben zeitgeschichtliche Einflüsse nicht unbeachtet.

Am Ende von Veras Leben öffnen drei Generationen ihr mentales Gepäck. Das gemeinsame Sehen und Wissen lässt sie einander nahekommen. „Was Nina wusste“ ist ein beeindruckender und fesselnder Roman.

Maria Kröger

David Grossmann: Was Nina wusste
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