Dieses Gespräch wurde am 1. April 2021 zwischen Stephan Kohorst (SK), geschäftsführender Gesellschafter des Unternehmens Dr. Ausbüttel & Co. GmbH und Michael Faßnacht (MF) per Zoom geführt und transkribiert.

MF: Ich möchte Sie bitten zu Beginn unseres Gesprächs zunächst etwas zu sich selbst als Person zu sagen. Wie definieren Sie Ihre Rolle und um welche Art von Unternehmen handelt es sich bei Dr. Ausbüttel & Co. GmbH?

SK: Ja, ich bin Familienunternehmer in der berühmt-berüchtigten 3. Generation (der Großvater hat es gegründet, der Vater hat es verwaltet, der Enkel wirtschaftet es herunter 😊). Ich habe Betriebswirtschaft in Münster studiert, ein Auslandssemester in den USA absolviert und bin dann dreieinhalb Jahre bei einem internationalen japanischen Medizintechnik-Konzern gewesen. Ich bin seit 25 Jahren im Familienunternehmen und habe hier verschiedene Bereiche mitaufgebaut, stark marketing- und produktentwicklungslastig orientiert, dann schwerpunktmäßig im Geschäftsführungsbereich angelangt, mit einer Co-Geschäftsführerin. Es gibt eine gute Arbeitsaufgabenaufteilung. Der unternehmerische Kontext ist mein Bereich (Unternehmer sein), der andere Bereich ist die Geschäftsführerrolle, die sich mehr um die strukturellen und prozessualen Dinge kümmert – da ist eine gute gemeinsame Schnittmenge vorhanden, vor allem auf der Werteebene.

MF: Wie groß ist das Unternehmen mittlerweile?

SK: Wir haben 140 Mitarbeiter hier in Dortmund, 40 Mitarbeiter, die vor Ort bei den Kunden unterwegs sind, entweder als Außendienstmitarbeiter oder als Moderatoren und wir beschäftigen über 1000 Menschen in Behindertenwerkstätten, primär hier im Ruhrgebiet, aber auch in Norditalien. Wir beschäftigen Menschen mit Behinderung und Flüchtlinge (10), so versuchen wir Inklusion und Integration zu leben.

MF: Wenn Sie einen Blick auf Ihre Zulieferer werfen, wie viele Arbeitsplätze hängen dort von Ihrem Unternehmen ab?

SK: Wenn man jetzt Produktion und Dienstleister sieht (also außerhalb der Behindertenwerkstätten), könnten das schon 400 Personen sein, in Unternehmen, bei denen wir der größte Auftraggeber und Kunde sind (wenn wir pleitegehen würden, dann beträfe das insgesamt mit Familienangehörigen sicher eine Personengröße im vierstelligen Bereich, ein paar tausend Menschen).

MF: Bei diesen Größenordnungen wird deutlich, dass mit Ihrer Rolle ein großes Maß an Verantwortung verbunden ist. Verantwortung in dem Sinne, dass Sie an vielen Stellen Entscheidungsträger sind, unterstützt durch andere Mitarbeiter*innen, aber Sie sind Letztentscheider. Das bringt mich zu der Frage: Wie beschreiben Sie selbst Ihr Führungsverständnis?

SK: Mein Führungsverständnis ist sehr stark von Werten geprägt (nicht in so einem rhetorischen bullshit-Sinn). Wir reden im Unternehmen von Werten und unserem „Warum“. Wir haben fünf Werte, die mit unserem „Warum“ (das sind drei Punkte) gut zusammengehen. Das erste „Warum“ (warum arbeiten wir hier, warum existiert das Unternehmen) ist: „Wir möchten Wunden bezahlbar heilen“ und die passenden Werte dazu sind aus meiner Sicht „Leistung“ und „Lösungsorientierung“ und ich glaube beide prägen auch mein Führungsverständnis. Ich habe eine Aufgabe (Wunden bezahlbar zu heilen), die mehr ist als eine reine funktionale Aufgabe, es ist eine größere Aufgabe (eine Aufgabe in Großbuchstaben!). Diese Aufgabe gut zu erfüllen, prägt stark die Art, wie ich führe (das ist, wenn man will, sehr kundenorientiert). Das Kundenverstehen, die Kundenorientierung ist ein wesentlicher Teil meines Führungsverständnisses. Der zweite Punkt bei diesem „Warum“ ist „Soziales Engagement“, das meint „Soziales Engagement leben, erleben und ermöglichen“, das ist gleichzeitig auch ein Wert bei uns. Sozial Benachteiligte stehen dabei stark im Vordergrund. Wesentlicher Antrieb, auch im Führungsverständnis ist dabei, dass es eine Motivation ist, dass man Menschen gewinnen kann. Was interessanterweise zu mehr Härte als zu Soft-Haltung führt. „Soziales Engagement“ ist kein weicher Wert, wenn wir unsere Aufgabe nicht erfüllen, also wirtschaftlich erfolgreich sind, dann können wir weder Menschen mit Behinderung Arbeit geben, noch können wir soziale Projekte fördern. Das sorgt für sehr intensive Motivation und Forderungsverhalten. Der dritte Punkt des „Warum“: Wir möchten sinnvolles Arbeiten bieten, bei dem man etwas lernen und sich persönlich entwickeln kann, das spricht die Werte „Freiheit“ und „Vertrauen“ an. Ich glaube, dass wir damit einen bestimmten Typus an Menschen suchen, denen man vertrauen und denen man Freiheit geben kann. Das prägt als Leitmotiv das Führungsverständnis und auch das Führungsverhalten (was aber nicht heißen soll, dass wir das immer erfüllen). Es ist ein hoher Anspruch, dem man nicht immer gerecht wird (einfach, weil man kein Roboter, sondern ein Mensch ist), aber es ist ein Orientierungspunkt und ich glaube, der prägt. Der prägt mich und er prägt auch andere Leute hier in diesem Unternehmen und an diesem Punkt kann man auch scheitern.

MF: Jetzt ist ja das Oberthema des heutigen Gesprächs „Führen in der Krise“. Hat sich das von Ihnen skizzierte Führungsverständnis, mit dem auch die Kultur Ihres Unternehmens fundamentiert wird, in der Corona-Krise bewährt?

SK: Ich würde sagen: Klares Ja! Zum einen, wir wussten die ganze Zeit, warum wir das tun. Natürlich gibt es auch solche Themen wie „sichere Arbeitsplätze“ für die Mitarbeiter und „den wirtschaftlichen Erfolg für die Zukunft gewährleisten“, aber ich glaube, dieser Antrieb die Patientenversorgung zu sichern (im Sinne „Wunden bezahlbar zu heilen“) war in der Belegschaft extrem stark präsent, weil wir erklärt haben, was passiert, wenn wir nicht mehr liefern können. Allein das hat enorm geholfen. Vielleicht spielt aber auch ein Teil meines Führungsverständnisses und meiner Persönlichkeit eine Rolle, dass ich sage „Klarheit geht vor Harmonie“ und ich auch den Mut zu unbequemen Fragen und Entscheidungen habe. Das war aus meiner Sicht in der Krise extrem wichtig. Da habe ich das Führungsverständnis: In der Gefahr – und Krise ist eine Gefahr – muss der Leitwolf vorangehen. Forscher formuliert, will man Leitwolf oder Leithammel sein, bedeutet es einen klaren Blick für die Realitäten, für die harten Fakten, welche unangenehm sind, zu entwickeln. Dazu kommt etwas, das ich „produktive Paranoia“ nenne, also sich zu überlegen „Mensch, was könnte schief gehen?“, „wie müssen wir darauf vorbereitet sein?“, um am Ende vor die Welle zu kommen. Also vorauszudenken und dadurch auch vorbereitet zu sein. Ich glaube das hat enorm geholfen. Ich glaube auch, dass wir eine gute Mischung gefunden haben, zwischen „Komplexität verstehen“ und das dann runterzubrechen. Der Mut zu Entscheidungen bei unvollständigen Informationen (das gehört zum Unternehmertum) hat auch geholfen. Würde man mit heutigem Wissen alle diese Entscheidungen wieder treffen? Natürlich nicht! Aber man hatte es halt nicht! Ich glaube, da waren viele gelähmt, aber das war nicht die Reaktion hier bei uns, weder bei mir noch bei den Mitgliedern im Krisenstab, die waren alle nicht gelähmt, sondern wir waren eher in einer Art Kampfstimmung, nach dem Motto „Jetzt erst recht“. Es gibt nach meiner Einschätzung ein schräges Führungsverständnis stark an Harmonie und Basisdemokratie orientiert, es mag bestimmt Situationen geben, wo das, funktionieren kann, aber nicht in der akuten Krise. Ich glaube, da ist Unsicherheit bei Vielen, extrem viel Unklarheit, da war die starke Orientierung, die wir gegeben haben, gut. Es gab einen klaren Weg, wo wir gesagt haben: „dahin geht’s“. Und das Verständnis war auch, dass Führung Unsicherheit absorbieren, Sicherheit vermitteln und Orientierung geben muss. Ganz banal: Wir haben gesagt „es gibt keine Kurzarbeit“, die Mitarbeiter müssen sich keine Sorgen um ihre finanzielle Zukunft machen, was das Unternehmen angeht. Diese „Orientierung im Dunkeln“ oder „Klartext im Getümmel“ um Wolf Biermann mal zu zitieren, das ist enorm wichtig in der Krise. Was wir dann auch gelernt haben, (die Krise war ja nicht nur zwei, drei Monate, sondern nach dem Sommer war klar „Es ist ein Dauerkrise“) zunehmend war mehr Partizipation angesagt. In einer kurzfristigen, akuten Krise ist das mit Partizipation eher problematisch, weil es zu lange dauert. Da haben wir auch klar Druck aufgebaut. Aber wir haben danach keinen Aktionismus mehr gemacht. Die gleichen Regeln, die wir sehr früh hatten, gelten zu über 90 % noch immer. Also: Anfangs war das „harte Hand“, jetzt ist es aus meiner Sicht eher „ruhige Hand“. Es ist für alle klar, es funktioniert so wie wir es machen, wir müssen zwar viele Dinge ändern, aber wir brauchen nicht jeden Tag neue Regeln, die die Leute nur nervös machen. Ich glaube diese Mischung war entscheidend: In der akuten Krise sehr klar, auch partiell sehr direktiv, aber dauerhaft wieder zurück zum Partizipativen. Das Timing würde man mit der jetzigen Erfahrung anders machen, d.h. früher ins Partizipative zurückkehren, aber ich habe auch Corona zum ersten Mal erlebt. So sind das Erfahrungswerte, die lohnen, gesammelt zu werden.

MF: Nun ist die aktuelle Situation so, dass die Rede über „Krise“ fast zwangsläufig in der Betrachtung der durch Corona ausgelosten Krise landet. Es gibt jedoch für Unternehmen zahlreiche andere Krisensituationen, die auftreten können, z. B. Arbeitskräftemangel, Finanzprobleme, Produkt/Dienstleistungsprobleme, regulatorische Herausforderungen, Nachfolgediskussionen usw. Ergeben sich aus dem Umgang mit der Coronakrise Erkenntnisse und/oder Erfahrungen, die auch für den Umgang mit anderen Krisensituationen tauglich sein könnten, im Sinne einer Organisationsresilienz? Erleben Sie Ihr Unternehmen gestärkt?

SK: Ich glaube, Ja! Wir haben eine Selbstwirksamkeit bewiesen. Wir haben die Krise bis jetzt gut bewältigt, wir haben wenig Erkrankungen, wir haben keinen Corona-Fall, der hier im Unternehmen entstanden ist. Wir waren „Fels in der Brandung“ (das hört sich zu pathetisch an), aber wir waren Stabilitätsfaktor für unsere Kunden und die Mitarbeiter – und ich glaube, die Sonntagsrede „wir sind für euch da“, „wir tun alles und bemühen uns“, das kann man verbal ausdrücken oder die Mitarbeiter erleben es, dass die Gehälter gekommen sind, dass sie fair und transparent informiert wurden. Das hat hier viele Leute geprägt und hat das Vertrauen vertieft. Es gibt ja dieses posttraumatische Syndrom, das spannendere ist aber das posttraumatische Wachstum. Resilienz ist ja so ein Schritt dazwischen. Ich glaube, dass wir gestärkt aus der Krise gehen, aber natürlich hat eine Krise Belastungen, hat Erschöpfung bei Vielen bewirkt und Corona ist ja insgesamt noch nicht durch. Wir haben auch vorher schon schwierige Situationen erlebt und bewältigt, das hat uns geprägt und das hat uns eher befähigt auch mit der Coronakrise umzugehen.

MF: Nun leiten Sie dieses Unternehmen bereits viele Jahre und Sie haben erwähnt, dass es bereits früher schwierige Situationen (Krisen) zu bewältigen galt, wie ordnen Sie die Coronakrise in diesem Zusammenhang ein?

 SK: Es ist mit Abstand die größte Krise. Ich habe hier ein paar Jahre Anlaufzeit gebraucht und das ist auch nicht nur fröhlich gewesen, aber wir sind jetzt im 18. Jahr, in dem wir jeweils zweistellig wachsen, wir haben das Jahr mit der globalen Finanzkrise überstanden (ich habe nachgesehen, in dem betreffenden Jahr hatten wir ein Wachstum von 31 %) – also, die Finanzkrise ist komplett an uns vorbeigegangen. Bei Corona ist ein heftiger Eingriff in den Alltag erfolgt und erfolgt immer noch. Es waren alle betroffen, man konnte sich dem kaum entziehen. Es gab viel Unsicherheit und Angst, stark mediengeprägt, daher ist es wirtschaftlich, gesellschaftlich und gesundheitlich sicher die größte Krise in meinem Leben. Privat als Stephan Kohorst geht diese Krise mit einer sehr hohen Zeitbelastung einher, aber erfreulicherweise war das Thema für mich nie angstbesetzt. Ja, es war eine krasse Herausforderung, eine superhohe Belastung, aber es war nicht mit dem chronischen Thema Angst oder Panik verbunden. Und das ist eigentlich eine sehr ermutigende Erfahrung, dass man in der Lage ist, dies zu verarbeiten, mit all den Unsicherheiten, die es natürlich gab und all dem Druck, der da war. Aber eine Paniksituation hatte ich keinen Moment, nicht, weil ich ein besonders toller Typ bin, sondern, weil wir hier ein gutes Team hatten, mit dem man auch unterschiedliche Aspekte beleuchten konnte. Dieses Interdisziplinäre bei uns, auch naturwissenschaftliches, medizinisches und pharmazeutisches Wissen im Unternehmen zu haben, das hat uns enorm geholfen. Diese breite Wissensaufstellung, auch mit Zugängen zu Professoren an der Uni in Witten, ergab genug Ansprechpartner, dies hat stabilitätsfördernd gewirkt. Wenn man Fragen hatte (und ich hatte massig Fragen), fand sich jemand, dies ergab ein gutes, klares Bild.

MF: Nun gibt es einen Unterschied eine panikähnliche Situation zu erleben oder Situationen zu erleben, die sich bedrohlich anfühlen. Haben Sie sich im letzten Jahr in irgendeiner Form bedroht gefühlt?

 SK: Nein. Die größte Sorge war und ist behördliche Überreaktion. Wir haben immer recht klar im Kopf auseinandergekriegt: Corona ist nicht Ebola! Es geht nicht darum zu bestreiten, dass es für bestimmte Zielgruppen eine gefährliche Geschichte ist, aber für einen normalen, gesunden Menschen (klar es kann schwere Verläufe und Todesfälle geben) gilt: Das gibt es auch in anderen Bereichen. Erste Einschätzung, wie ist das persönliche Risiko, wie ist das für meine Kinder, wie ist das für meine Mutter, wie ist das im Freundeskreis? – da zu sagen, es ist vertretbar, überschaubar, man kann sich auch in bestimmtem Rahmen schützen, das hat eine Basissicherheit ein Basisvertrauen gegeben. Da waren Probleme, die mussten gelöst werden, da waren hier gute Leute mit an Bord, das hat sogar Spaß und Freude gemacht – Krisenmanagement kann ja auch sehr erfüllend sein, weil man Selbstwirksamkeit spürt, wenn man schnelle Lösungen hinbekommt und wenn man es vielleicht besser hinkriegt als bürokratische Strukturen. Es war partiell auch eine Form von positivem Stress. Es gab sicher auch die andere Seite in der Intensität und in der Stundenzahl. Phasenweise habe ich 70% weniger Koffein konsumiert, es gab ja schon genug Adrenalin von Innen.

Krise würde ich jetzt nicht immer nur komplett negativ sehen. Es gibt so eine schöne Formulierung „Der Wind bläst die Kerze aus und facht das Feuer an“ und wir hatten hier Feuer. Ein Feuer kann natürlich auch außer Kontrolle geraten. Und wenn man viel Wind um die Nase hat … (ich bin kein Segler), aber ich kann mir vorstellen das Segeln mit viel Wind viel Spaß machen kann, weil man dann Tempo kriegt. Das waren zum Teil sehr besondere Momente. Die Kooperation zwischen Behörden, Wissenschaft, Unternehmen und Politik (leider ist es schon wieder verloren gegangen), da gab es Momente, in denen ich dachte „wow, das habe ich mir immer gewünscht, dass es so läuft“. Leider haben wir es wieder verloren. Da würde so viel gehen in Deutschland, wenn wir diese Haltung aus dem letzten Frühjahr beibehalten hätten.

MF: Sie haben beschrieben, dass es in der Krise wichtig ist, dass es eine oder mehrere Personen gibt, die Orientierung geben, die vorangehen, vielleicht als Modell dienen. Was brauchen diese Orientierungspersonen selbst an Unterstützung, was trägt zu deren Entlastung bei? Wie haben Sie das erlebt? Gibt es für Sie ein Entlastungs- oder Supportsystem, das Sie nutzen können?

SK: Auf jeden Fall. Bleiben wir erst einmal im beruflichen Kontext: Das fängt an mit einem exzellenten Beirat, dessen Mitglieder zwar selbst unter Strom waren, aber wo man manchmal nur 5 bis 15 Minuten gesprochen hat und man ein schnelles und klares Meinungsbild bekommen konnte. Dann das berufliche Netzwerk, außerhalb des Coaching, hat enorm geholfen. Dann die Kollegin in der Geschäftsführung und der Krisenstab waren hilfreich. Privat: Partnerin, Familie, Freunde, da hatte ich wirklich viele Menschen. Am Anfang waren viele von denen noch sehr blauäugig, da war ich im Gegensatz dazu mit meiner Krisenwahrnehmung extrem früh dran. Der Großteil hatte das lange unterschätzt. Aber dann ist man immer gut im Dialog gewesen, man hatte dadurch auch so eine Art Ventilfunktion. Und ich habe versucht – im Rahmen wie das ging – Rad zu fahren, Spazieren zu gehen, gejoggt, habe viel Kekse und Kuchen gegessen, zugegebenermaßen, aber auch das ist ja manchmal ne Form mit sowas umzugehen. Nachdem ich zwei, drei Monate in so einem Tunnel war, wo es nur um diese Krisenbewältigung ging, bin ich wieder aus diesem Tunnel herausgekommen, das war auch gut. Ich glaube, das kann man in der Form nicht sehr viel länger durchhalten. Ich glaube zum Schluss in diesem Tunnel war ich Risikopatient, einfach durch Erschöpfung, Schlafmangel, drei Monate lang fast 100-Stunden-Wochen, das geht, ist aber nicht langfristig durchhaltbar. Trotzdem, diese Erfahrung gemacht zu haben, würde ich immer noch als gut bezeichnen. Und ich habe für mich in der Wahrnehmung die Kurve gekriegt und versuche jetzt die noch kommenden Wellen mit einer Intensität anzugehen, mit der man das länger durchhalten kann.

MF: Nun leiten Sie ein Unternehmen, das expandiert, das sich vergrößert, das dadurch auch neue Strukturen braucht. Sie haben bereits länger vor Corona angefangen neue Verantwortungsstrukturen aufzubauen, es sind weitere Personen zusätzlich zu Ihnen für die Führung zuständig und tragen für Teilbereiche Verantwortung. Hat sich diese Struktur in der Krise bewährt? Ist es eine Hilfe gewesen, dass es das schon gab, oder denken Sie, dass Sie da noch nachbauen müssen?

SK: Beide Erfahrungen habe ich gemacht. Die Zusammenarbeit mit der Co-Geschäftsführerin war eine gute Zusammenarbeit. Gut war dabei die intuitive Arbeitsteilung, die dabei entstanden ist. Im Krisenstab hatten wir eine exzellente Besetzung. Diejenigen, die dort dabei waren, haben enorm was gerissen und auch da hat sich relativ intuitiv eine Arbeitsteilung nach und nach herauskristallisiert: Jemand, der die Lieferkette gewährleistet hat, jemand, die Medizinwissen hatte, ich glaube, das war sehr entlastend. Die Assistenz hat enorm viel an Unterstützung gegeben, dadurch wurde der Rücken freigehalten, in selbstständiger Form, ohne, dass man alle Hintergründe erklären muss. Die wussten, welcher Strom da gerade herrscht und die damit umgehen konnten, dass in dieser Situation nicht immer alles in der gebührenden Höflichkeitsform rübergebracht wurde. Das hat sicherlich gewirkt. In der Leitung gab es Licht und Schatten. In der Belegschaft gab es insgesamt eine extrem gute Performance. Deswegen ja, es gab sehr viele positive Dinge und da, wo es nicht geklappt hat, wo auch Menschen dem Druck nicht standgehalten haben (und in der Krise ist halt Führung unter stärkerem Druck – das sind die Erwartungshaltungen aller Beteiligten höher) und da gab es eben auch bei uns Menschen, die damit nicht gut umgehen können. Da sind auch einige nicht mehr in der Position oder im Unternehmen, das ist leider so. Ich würde gar nicht sagen „Spreu und Weizen haben sich getrennt“, das wäre unangemessen, aber da sind halt Menschen an ihre Grenzen gekommen, das ist dann weitgehend friedlich geregelt worden, aber da musste es Veränderungen geben. Also, diese 100-Stunden Phase ist auch eine Kompensationsleistung von der Co-Geschäftsführerin und mir gewesen für andere Leitungskräfte, die ihre Aufgabe nicht erfüllt haben, das will ich nicht schönreden. Aber wir hatten auch hervorragende Leitungskräfte, die einen super Job gemacht haben, und nur deswegen sind wir auch durchgekommen. Das war kein Soloprojekt und nicht die tolle Geschäftsleitung. Dazu haben viele, viele beigetragen und wovon ich immer noch beeindruckt bin – Mitarbeiter haben ja auch eine Verantwortung, werden vielleicht gestützt durch klare Orientierung – die haben das ernst genommen und angenommen. Die Belegschaft finde ich gut, es gab ganz wenige Ausfälle.

MF: In anderen Unternehmen wurde berichtet, dass plötzlich Personen Verantwortung übernommen haben, die man vorher dafür gar nicht auf dem Schirm hatte. Gibt es Erfahrungen in Ihrem Unternehmen, dass Personen über sich hinausgewachsen sind, neue Rollen übernommen haben? 

SK: Ja, das gab es. Wir haben ja ein Projekt gestartet Mundschutzmasken zu produzieren. Da haben Menschen Verantwortung übernommen, von sich aus, da ist viel selbstorganisiert gelaufen, das ist gerade nicht sehr direktiv gelaufen. Da habe ich Rahmenentscheidungen mit gefällt, aber aus dem Operativen war ich komplett raus – das hat in der Summe gut funktioniert. Mit dieser Art von Produkten und dieser Art von Wertschöpfung hatten wir gar keine Erfahrung, das war ein Teil der Probleme, die wir dann hatten. Da sind Leute definitiv über sich hinausgewachsen, auch das ist eine der ganz wichtigen Erfahrungen, die wir in der Krise gemacht haben. Betriebswirtschaftlich war das sicherlich „tief rot“, aber das war uns von Anfang an klar, damit können und wollen wir gar kein Geld verdienen, sondern einen Beitrag leisten. Da haben Menschen Initiative ergriffen, Überblick bewahrt, das war ja jeden Tag neu, das war definitiv eine der ganz positiven Erfahrungen. Im Sommer letzten Jahres hätte ich zu 80 % positive Erfahrungen gezogen und für das Unternehmen würde ich das immer noch beibehalten. Die Gesamtlage sollten wir heute vielleicht nicht diskutieren, aber was das Unternehmen und die Mitarbeiter angeht überwiegt das Positive mit Abstand das Negative. Das darf man nicht vergessen bei allem reden über Krisen, dort wird ja gerne das Negative betont. Ich glaube, man kann ja auch an einer solchen Krise wachsen und genau diese positiven Überraschungen erleben, die gab es!

MF: Ich finde erstaunlich, dass Sie in der Krise noch Zusatzaktivitäten gestartet haben. Andere Unternehmen waren damit komplett ausgelastet ihre eigen Organisation so aufzustellen, dass mindestens ein Notbetrieb weiter funktionierte. Sie haben es anders gemacht, Sie haben Zusatzprojekte angeschoben, die vom Umfang ja nicht klein waren, was war Ihre Motivation dafür?

 SK: Erster Schritt war, wir waren bereits Ende Februar des letzten Jahres schon im Krisenmodus und hatten bis Mitte März schon unsere Hausaufgaben gemacht, die Lieferkette stabilisiert, das ist die Voraussetzung für alles andere. Und dann haben wir gesagt, dieser Partnerschaftsgedanke mit den sozialen Organisationen, die wir stützen, wollen wir aufgreifen. Dann habe ich die kontaktiert und gesagt, wir sind stabil, was können wir für euch tun, was braucht ihr? Es gab einen Kontakt mit dem Leiter des Kinderpalliativzentrums, da ist erst was ganz klein passiert und dann ist das Projekt exponentiell gewachsen, genau wie das Virus. Das Gesundheitssystem stand damals auf der Kippe, (also bei aller Kritik an der Corona-Politik jetzt, das ist keine Erfindung und das hat nicht Bill Gates gemacht), das Gesundheitssystem stand kurz vor dem Zusammenbruch. Da gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann darüber jammern und ich gucke da halt nicht zu, das war unsere Haltung, „da müssen wir was machen“. Wir hatten bestimmte Möglichkeiten oder wir haben geglaubt wir hätten sie und dann waren wir in so einer unternehmerischen Mentalität in der Lage, hier Krankenhäuser mit Mundschutzmasken zu versorgen. Da haben wir sicher Geschäfte mit Leuten gemacht, mit denen würde ich sonst keine machen, aber die konnten liefern. Der Schwarzmarkt hat diesen besonderen Charme. Der liefert etwas, wir sind auch mal hereingelegt worden, okay, das passiert dann mit gefälschten Zertifikaten, aber im Kern hat sich da vier-, fünfmal am Tag die Situation geändert, das war superspannend. Es ist unser Anspruch Wirkung zu erzielen und da konnten wir uns nicht auf die enge betriebswirtschaftliche Sicht beschränken. Das war sicher die spannendste Phase meines Berufslebens und auch die intensivste mit der größten Zeitbelastung. Man hat gemerkt, da ging ein Ruck durch einen Teil der Belegschaft, die haben das relativ geheim gehalten, weil damals Mundschutzmasken ja das „Gold“ waren. Wir hätten unsere Kunden gar nicht bedienen können. Die, die involviert waren, waren „Feuer und Flamme“, das war sicher eines der Highlights meines Berufslebens. Klar, wir können alle auf Corona verzichten, aber diese Erfahrung möchte ich nicht missen.

MF: Selbstwirksamkeitserfahrung hat ja einen hohen Einfluss auf die intrinsische Motivation. Hat das Maskenprojekt in einer solchen Weise bei den Mitarbeiter*innen Wirkung gezeigt?

SK: Bei denen, die darin involviert waren, auf jeden Fall. Wir haben das nicht ausgeschlachtet intern wie extern, weil die Produktionsmengen, die wir hatten, zu klein für ein größeres Volumen waren. Und als wir auf einem bestimmten Level waren, war der Markt dann auch gut versorgt. Wir konnten dann über seriöse Quellen Ware beziehen. Aber die Hauptbeteiligten „werden das mit ins Grab nehmen“, weil es eine außerordentliche Erfahrung ist. Es ist für uns alle eine der größten Gesundheits- und Wirtschaftskrisen, die wir mitgemacht haben. Für die Hauptbeteiligten, die genäht haben, die andere animiert haben mitzumachen, wird es eine nachhaltige Erfahrung ihres Berufslebens bleiben. Und das gibt auch Motivation, denn über Werte wird viel geredet, wir haben es gelebt. Das haben die Leute mitgekriegt. Wir haben das Ganze, was wir hier produziert haben, verschenkt. Über die Stückkosten darf man gar nicht nachdenken, aber es ging halt nicht anders. Wir haben Material verbraten, haben Maschinen kaputt gemacht (zum Teil private Maschinen der Leute, die diese mitgebracht haben – man bekam ja noch nicht mal Nähmaschinen). Wir haben das alles ersetzt. Es war genau das Richtige, das zu tun und ich glaube, „in der Krise zeigt sich, wer wir sind und nicht, wer wir sein wollen“. Das haben wir gezeigt, ohne moralischen Dünkel. Wir haben auch viel falsch gemacht, im operativen Sinn, aber es war die richtige Entscheidung. Klar, im Nachhinein hätte ich die Belastung für einzelne Beteiligte lieber heruntergefahren, da haben wir auch viel gelernt. Und würde ich es wieder tun? Ja! Ich würde natürlich hoffen aus den Fehlern zu lernen. Aber die Grundentscheidung sich da nicht einfach nur hinzusetzen, das war manchmal schwer erträglich, wenn man 100 Stunden in der Woche unterwegs ist und sieht, woanders chillen die Leute gerade, die gehen zu allen Tages- und Nachtzeiten spazieren, natürlich kommt einem der Gedanke, das könntest du jetzt auch tun. Aber das ist ein sehr oberflächlicher Gedanke, der prägt auch nicht, weil man sich fragt „und dann?“. Man will ja morgens in den Spiegel gucken können. So, wir hatten die Möglichkeit (oder haben uns eingebildet wir hätten sie 😊) und dann haben wir sie uns faktisch geschaffen. Hätten wir vorher gewusst, wie anstrengend das ist, hätte man es vielleicht nicht gemacht. Aber es war richtig es zu tun, das auf jeden Fall!

MF: Wenn man über „Führen in der Krise“ spricht, lohnt sich ein Perspektivwechsel auf das Thema aus der Blickrichtung der „Geführten“. Was sind die Erwartungen an die Führung. Sie haben in Ihrem Unternehmen eine sehr junge Belegschaft, da sind z. B. die Themen Kinderbetreuung und Homeschooling virulent. Was haben Sie für Erfahrungen mit Erwartungen Ihrer Mitarbeiter*innen an Sie als Führungskraft und Inhaber gemacht? Haben Sie Vorstellungen davon, was Ihre Mitarbeiter*innen von Ihnen brauchen?

 SK: Ich habe versucht mit einigen Menschen dazu in Dialog zu gehen. Es gibt Leute, die lange dabei sind, von denen ich weiß, ich bekomme Klartext zurück, auf die bin ich an einem bestimmten Punkt auch zugegangen. Wir haben die Mitarbeiter schon Anfang März ins Homeoffice geschickt. Nach und nach kam relativ klar heraus, das ist keine gute Idee, das haben wir auch zu lange gemacht (die konnten gar nicht hierhin). Deswegen finde ich die augenblickliche Diskussion darüber mehr als absurd. Wir haben hinterher eine Reflexionsrunde gemacht und auch offen gesagt „das war zu lange“, „das war falsch“, aber den zu Verfügung stehenden Informationen geschuldet. Das hat man den Leuten zum Teil angesehen, zum Teil ist auch darüber geredet worden: „es ist mir zu viel“, „ich möchte wieder ins Büro kommen“. Da gab es Kommunikationskanäle, sehr viel informell und ich glaube, das ist eine der Stärken in einem Unternehmen unserer Größenordnung, aber es gibt auch strukturierte Sachen. Wir haben im Sommer Gesprächsrunden mit den Mitarbeitern gemacht, meine Co-Geschäftsführerin und ich, in Corona konformen Gruppen von ca. 10 Personen auf großer Fläche. Wir haben gefragt (optimistisch – wie war die erste Runde post Corona) was war gut, was war nicht gut? Anfangs war die Kommunikation nicht ausreichend – ja, das haben wir zugegeben. Wir haben unsere eigenen Fehler und Schwierigkeiten nicht schöngeredet, das hat mit Glaubwürdigkeit zu tun. Ich hatte nicht das Gefühl, dass da eine Form von hämischer Kritik aufkam, keiner wollte mit uns tauschen. Keiner der Mitarbeiter wollte meine Arbeit machen. Es wurde anerkannt, dass wir ernsthaft bemüht waren, es wurde anerkannt, dass wir reflektiert haben und es wurde anerkannt, dass wir auch in der Lage waren zu sagen, das war nicht gut genug. Aber Corona haben wir alle zum ersten Mal gemacht, dafür war Verständnis da. Auch das ist für Krisenbewältigung gut, hinterher, wenn es gut gelaufen ist, dennoch aufzugreifen, dass einige Dinge nicht optimal gewesen sind. Bei allem Erfolg, den wir bewirken konnten, haben wir auch in der Leitung und Geschäftsführung Fehler gemacht. Nur so lässt sich aus Fehlern lernen und man fliegt nicht in der nächsten Runde aus der Kurve.

MF: Sie sind als Unternehmer eine öffentliche Person, d.h. man nimmt viele Dinge, die Sie tun wahr. Aber Sie sind auch eine „nicht-öffentliche“ Person, es geht um Kontakte zu Lieferanten, um Kontakte bei denen Verträge geschlossen werden, es geht um Vernetzungen in die Politik und Wissenschaft. Was passiert in einer Krise in den Bereichen, die nicht so öffentlich sind, was passiert auf der „Hinterbühne“? Hatten Sie überhaupt Zeit für diese Hintergrundkontakte und -strategien?

 SK: Mit anderen Unternehmern und Geschäftspartnern habe ich viel gesprochen, auch mit den Leitungskräften hier. Wir sind sehr früh in den Austausch gegangen, wir waren früh aus den Startlöchern. Wir haben im März 2020 angefangen Geschäftspartnern und Lieferanten Hilfsangebote zu machen, einfach nur prophylaktisch „wenn ihr in ein Problem geratet, meldet euch“. Da ist hinter den Kulissen extrem viel gelaufen. Universität partiell, in der Politik bin ich nicht so exzellent vernetzt, das ist sicher ein Manko, jetzt bin ich aber politisch überhaupt nicht begabt, zwar sehr interessiert, aber Diplomatie und ein gewisses politisches Naturell ist nicht meins. Wir hatten mit der Patienten- und Behindertenbeauftragten hier einen Termin, die hat uns glaubwürdig abgenommen, dass wir für die Sache brennen und nicht irgendwelchen Lobbyismus machen und ich will da keine Pflaster verkaufen. Aber das ist definitiv eine Schwachstelle, die wir identifiziert haben, denn gerade jetzt ist Vieles politisch getrieben – die Politik greift unglaublich stark ein (auch nicht immer übermäßig kompetent). Da gibt es viel Frontstellung und da müssen wir ran, da war mal die Planung Post-Corona reden wir mit denen. Wir müssen versuchen jetzt im Sommer noch mal in Kontakt zu treten, aber nun ist Bundestagswahlkampf, da müssen wir mal sehen, wie das so funktioniert. Aber das Netzwerk in die Politik und die örtliche Verwaltung war definitiv eine der Schwächen und das lässt sich nicht über Nacht beheben.

MF: Sie haben den Beirat erwähnt, der das Unternehmen schon lange begleitet. Wie konnten Sie dieses Gremium in der Krise nutzen, wobei konnte der Beirat Sie beraten und unterstützen?

SK: Man hatte sehr schnell im Blick „wie läuft es bei Anderen“, von wem können wir etwas lernen und wer kann von uns etwas lernen, das war ein guter Erfahrungsaustausch (z. B. wie handelt das eine Gesundheitsamt, wie das andere). Hilfreich war das Netzwerk als wir Expertise für das Mundschutzprojekt brauchten, da standen die bereit. Das waren die Hauptthemen: Wissens- und Erfahrungs-vermittlung. Auch mal das man gegenseitig geschimpft hat, wie doof das ist, aber diese Ventilfunktion hat vielleicht ein, zwei Minuten gebraucht, dann war man sehr schnell bei der Frage „wie macht ihr das? Wie machen wir das?“ Es ist ein bisschen wie eine ERFA-gruppe oder eine Lerngruppe, eine learning community, das war ganz klar die Stärke: Lernen und Vernetzen. Das kann ich als Unternehmer nur empfehlen, das Problem ist, in der Krise bekommt man das (ein Netzwerk / einen Beirat) nicht aufgebaut. Ich beschäftige mich seit 10 Jahren mit dem Thema Resilienz (ich finde das Thema intellektuell faszinierend), es hat sowohl unternehmerisch wie menschlich eine Bedeutung: Krisen kommen, sie sind da und wie kann man damit umgehen, da habe ich viel von Sozialunternehmern gelernt, also aus einem ganz anderen Milieu, weil die ja permanent mit Krisen konfrontiert sind von Finanzkrisen bis Lebenskrisen ihrer Schützlinge oder den sozial Benachteiligten. Das hat mich positiv geprägt. So Dinge wie Reserven zu haben, sich nicht komplett zu verausgaben oder nicht hoch verschuldet zu sein, all das hat dazu beigetragen. Auch Diskussionen über solche Themen haben im Beirat über die Jahre stattgefunden. Eine Krise ist natürlich auch immer ein Ausleseprozess, so hart sich das jetzt anhören muss. Da muss man unterscheiden zwischen denen, die von politischen Maßnahmen betroffen sind (das hat nichts mit fairer Auslese zu tun), aber in anderen Bereichen haben Unternehmen schlicht ihre Hausaufgaben nicht gemacht, so dass die Krise sie einfach wegbläst, da müssen die Unternehmen sich harte Fragen stellen. Ich rede jetzt nicht von Gastronomen oder Hoteliers, denen staatlich der Betrieb geschlossen wird, aber es gibt Gesellschaften, die überschuldet oder veraltet sind, damit ist man in der ersten Krise bereits schlecht aufgestellt und das kann man ja versuchen vorzuplanen.

MF: Es gab eine interessante Erfahrung, dass in der ersten Welle der Corona-Pandemie bürokratische Strukturen plötzlich in den Hintergrund traten oder ausgesetzt wurden. Im Moment kommt es einem so vor als schlüge die Bürokratie zurück. Gibt es im Bereich von Führung im Profitbereich Überlegungen wie man mit dieser zunehmenden Bürokratisierung zukünftig umgehen will? Ich weiß, dass Sie ein Anhänger von Freestyle sind und damit bürokratischen Regulierungen kritisch gegenüberstehen. Was macht man als Unternehmer mit den Erfahrungen der Bürokratie in der Corona-Pandemie, wenn es nun in die Post-Corona-Zeit geht?

 SK: Was im Moment passiert ist so eine Art Frontstellung zwischen Politik und Unternehmen, das ist dauerhaft mit Sicherheit nicht gut. Netzwerke aufbauen, Überzeugungsarbeit leisten kann man parteiübergreifend versuchen, ich bin da skeptisch, aber vielleicht ist es einen bestimmten Aufwand wert. Es gibt viel gegenseitiges Unverständnis. Die Politik hat ihre eigenen Regeln, ihre eigene Dynamik, ihren eigenen Markt und die Wirtschaft auch, da stehen sich gerade zwei Kulturen komplett verständnislos gegenüber. Nüchtern betrachtet ist genau das passiert: Die erste Corona Welle haben wir gut bewältigt, weil die Zivilgesellschaft (Wirtschaft, Forschungsinstitutionen, die Bürger) das zusammen mit der Politik und der Verwaltung gut gehandelt haben. Dann haben – wenn man das polemisch formulieren darf – die Blockwarte ab Sommer übernommen und es in Grund und Boden gemanagt oder bürokratisiert. Pragmatismus fehlt, Grundsatzdiskussionen, Gerechtigkeit geht vor Wirksamkeit – ich habe da im Augenblick keine Lösung dafür. Da ist auch bei mir ein großer Frust und die Wahrnehmung, uns Unternehmer will man wegen der Steuern und Arbeitsplätze, aber im Kern will man uns nicht, wir werden zu Tode reguliert. Das Unternehmen, so wie wir jetzt sind, wird das überstehen, weil man sich Menschen ins Unternehmen holen kann, die diese bürokratischen Zumutungen bearbeiten. Aber Dr. Ausbüttel vor 15 oder 10 Jahren hätte heute keine Chance mehr groß zu werden. Da kann man jetzt, wenn man groß genug ist, sagen, es kommt halt kein Wettbewerb nach (egoistisch gesehen alles gut!), aber wir haben ja über intrinsische Motivation gesprochen und diese intrinsische Motivation wird über Bürokratie systematisch weggeätzt. Damit werden die Menschen entseelt. Wir reden über Purpose und Sinn, das wird weggenommen, weil wir zu Tode reguliert werden, Menschlichkeit gar nicht vorgesehen ist oder z. B. Dokumentationswahn (das wäre jetzt ein langes Thema). Wie man das drehen kann, bin ich auch sehr skeptisch. Der Witz ist ja, dass viele Sozialarbeiter eine Gemeinsamkeit mit Neoliberalen hätten (und die sind ja eher ein Feindbild für die) aber Freiheit zu haben, dass die Menschen vor Ort entscheiden sollen, eigentlich ist das etwas, das klassische Liberale und auch viele im Sozialbereich Engagierte als Gemeinsamkeit haben: Die Menschen in Verantwortung bringen, sie nicht zum Objekt machen. Es gibt beide Richtungen, der Bürokratismus alter sozialdemokratischer Prägung entmenschlicht und genauso der komplett entfesselte Kapitalismus, bei dem es nur ums Geldverdienen geht. Wie man da eine Brücke schaffen kann: Schwierig! Ich glaube, es wäre dringend notwendig, weil es sonst dazu führt, dass mehr und mehr Unternehmer sagen, dann verkaufe ich an einen Finanzinvestor, mache mir ein schönes Leben – damit verstärken sich aber die negativen Tendenzen. Es wird nicht ohne Unternehmer gehen, nicht ohne Familienunternehmen, nicht ohne Sozialunternehmen. Man braucht Menschen, die die Ärmel hochkrempeln, die für etwas brennen, nicht nur bürokratische Apparatschiks. Aber es ist schwierig.

MF: Wir sind in der dritten Welle, die dritte Welle ist noch nicht abgeschlossen, es ist noch unklar wie (schnell) sich Testungen und Impfungen positiv auswirken. Was ist Ihre Perspektive, was glauben Sie, wo werden wir in einem halben Jahr stehen?

SK: Halbes Jahr – das wäre Oktober. Ich befürchte in einem halben Jahr sind wir noch nicht raus, dazu ist Vieles im Moment zu dilettantisch gemacht worden. Ich glaube, dass das Problem schon ist, dass man das falsche Ziel hat oder den falschen Zielwert. Inzidenz alleine ist gar nicht aussagekräftig. Wenn man mehr testet, geht die natürlich nach oben. Es gibt ja Erfolge: Wir haben deutlich weniger Tote, es gibt Erfolge in Rostock oder Tübingen mit Testen, dass man sehr konsequent testet und den Menschen Freiheit wieder gibt. Ich befürchte, dass wir mindestens noch 12 Monate brauchen, um eine halbwegs solide Situation zu haben. Beim Thema Astra-Zeneca muss man in aller Fairness sagen, da steckt ja auch ein Politiker nicht drin, aber es ist so viel desaströs gemanagt worden. Ein schönes Beispiel: Wie könnte denn Impfung dezentral laufen? Hausärzte, die Pragmatiker im Gesundheitswesen, die auch die gesamte Krise auch gesundheitlich nie dramatisiert, aber auch nicht bagatellisiert haben, die impfen normalerweise in der Grippesaison 20–30 Millionen Personen innerhalb zwei bis drei Monate. Jetzt baut man zentrale Impfzentren aus für 80+ alte Menschen, die vor allem eins sind – nicht mehr mobil, die aber ein Vertrauensverhältnis zu ihrem/r Arzt/Ärztin haben und die schickt man in komplett anonyme Strukturen, in Warteschleifen und, und, und … Ich glaube, sinnbildlicher geht das gar nicht wie schlecht die Krise gemanagt wird. Und da werden wir so schnell nicht rauskommen, ist meine Befürchtung. Jetzt im Sommer wird es vielleicht entspannter sein. Ich stelle mich darauf ein, es wird uns noch 12 Monate begleiten, in der einen oder anderen Art und Weise. Ich mache mir keine wirtschaftlichen Sorgen. Das Problem ist gesellschaftlich: In sozialen Brennpunkten ist Corona ein „Brandbeschleuniger“. Was die Mitarbeiter angeht, bei vielen liegen die Nerven blank, sie sind erschöpft, mit mehr Druck, mehr Verboten kriegt man keine Compliance mehr hin. Das ist eine explosive Mischung.

MF: Das ist meine letzte Frage: Ihre Mitarbeiter*innen haben Sie als Führungskraft erlebt. Die Mitarbeiter*innen haben die anderen Leitungskräfte und den Krisenstab erlebt und sie haben ihre Kolleg*innen erlebt. Wie würden die Mitarbeiter*innen die Perspektiven im Unternehmen für die nächste Zeit sehen?

SK: Ich glaube insgesamt ist eine gute Mischung aus Stabilität, auf Stolz, auf das, was wir erreichen, da. Das gibt ihnen Grundvertrauen und Grundsicherheit. Aber die Erschöpfung durch Homeschooling und Arbeiten, die Erschöpfung durch sozialen Kontaktmangel (der Begriff social distancing ist eigentlich dämlich, erstens ist er Englisch, zweitens es geht nicht um soziale Distanz, sondern um physische Distanz, man kann soziale Kontakte pflegen, wenn man diszipliniert Abstand hält) wirkt. Der Lockdown ist eine Strategie, die kommt aus dem Mittelalter und es fällt uns in der dritten Welle nichts Besseres ein, das ist ein Armutszeugnis. Es gibt eine Müdigkeit, die weniger etwas mit der Firma zu tun hat, sondern mit der Gesamtsituation. Und wir machen uns aktuell dazu Gedanken, wir wollen vor der Welle sein. Wir können Corona nicht abschaffen, wir können Corona nicht verbieten, wir können versuchen positive Akzente zu setzen, auch mal über unseren eigenen Schatten zu springen (vielleicht eine Zeit lang einen Therapiehund hier laufen oder Schafe weiden lassen, ist normalerweise nicht mein Ding, aber es ist eine Idee, ein Impuls). Lernen von Rostock und Tübingen, wir testen die Leute, bei negativem Ergebnis kann man etwas ermöglichen, trotzdem auf Abstand achten. Aber es gibt offensichtlich Bedürfnisse: so haben sich einige negativ Getestete spontan umarmt, das zeigt, was da aufgestaut ist. Und das fand ich eigentlich ganz schön. Man kann die Menschen nicht weitere 12 Monate in die soziale Isolation treiben, sonst holt man sich eine Fülle anderer Probleme (Depressionen, Alkoholismus etc.), die wir nicht wollen. Testen ist ein Thema, erst war ich skeptisch, aber wir werden es fortführen und werden gucken wie kann man variieren, um Menschen soziale Kontakte in einem geschützten Raum zu ermöglichen. Da muss etwas passieren und ich würde definitiv nicht auf die Politik vertrauen, sondern wir müssen eigene Maßnahmen im Rahmen des Erlaubten ergreifen, um die Menschen zu schützen. Das ist noch ein Marathon, das ist meine Sorge. Für mich persönlich: Ich bin ein Mensch, der gerne liest, gerne klassische Musik hört, joggt, Fahrrad fährt und sich im kleinen Kreis gerne trifft (ich brauche keine Partys), daher bin ich gar nicht sehr eingeschränkt. Im Kern gibt es viele Dinge in meinem Leben, die laufen so wie immer. Aber ich weiß, dass andere Menschen, die andere Bedürfnisse haben, im Moment leiden, das geht langfristig nicht so weiter und schon gar nicht mit Druck, Verboten und Angst machen.

MF: Ich nehme das mal als Schlusswort für unser Gespräch. Ich bedanke mich herzlich, dass Sie sich die Zeit dafür genommen haben und mit mir über diese Themen unter dem Fokus „Führen in der Krise“ gesprochen haben. Danke für die Einblicke in Ihr Unternehmen und Danke für die Eindrücke und Überlegungen, die Sie dazu innerlich beschäftigen und bewegen. Ich bin sicher, wir werden weiter im Kontakt bleiben und die weitere Entwicklung erleben.

Stephan Kohorst: In der Krise zeigt sich, wer wir sind – nicht, wer wir sein wollen!

Stephan Kohorst

Geschäftsführender Gesellschafter der Dr. Ausbüttel & Co GmbH, Betriebswirt, in dritter Generation seit 25 Jahren in diesem Unternehmen tätig, Das Unternehmen ist in Dortmund ansässig und ist auf das Gebiet Wundversorgung spezialisiert. — sk@drausbuettel.dewww.drausbuettel.de

Stephan Kohorst: In der Krise zeigt sich, wer wir sind – nicht, wer wir sein wollen!