• Regie: David Nawrath
  • Drehbuch: David Nawrath, Paul Salisbury
  • Hauptrolle: Rainer Bock
  • Nebenrollen: Albrecht Schuch, Thorsten Merten, Uwe Preuss, Roman Kanonik, Nina Gummich, Johannes Gevers
  • Nominierungen für den Deutschen Filmpreis für das beste Drehbuch und die beste männliche Hauptrolle. Den Film kann man als DVD erwerben oder bei verschiedenen Anbietern streamen.

Ausdrucksstark – fast ohne Worte

Er spricht so gut wie nicht – der 60-jährige Protagonist des Films, Walter Scholl, gespielt von Rainer Bock. Und doch: von der ersten Sekunde an entstehen bei uns Zuschauer*innen Gefühle, wenn wir ihm am Morgen bei seinen Verrichtungen zusehen, bevor er zur Arbeit aufbricht. Es sind Gefühle, die man sich nicht erklären kann, die einer Begründung und einer Geschichte entbehren. Die Kamera und damit wir als Zuschauer*innen bleiben nah bei Walter Scholl.

Die Zusammenhänge erschließen sich nach und nach. Vieles wird nicht erklärt, manches bleibt offen oder scheinbar beiläufig. Was wir spüren, ist das innere Drama dieses Mannes, das eindrücklicher ist als alles, was im Außen geschieht.

Es geht um Schuld, Verantwortung, Einsamkeit …

Walter Scholl will sich raushalten. Wenn er sich einmischen könnte oder sollte, schweigt er stoisch, schaut zu Boden. Wir gucken gebannt auf den Bildschirm, spüren seine Ambivalenz, seine Scham, seine Angst, seine Wut. Walter Scholl arbeitet als Möbelpacker bei einer zwielichtigen Zwangsräumungsfirma. Er ist ein Mann mit einem kraftvollen, aber auch geschundenen Körper … Wenn er von der Arbeit heimkommt, legt er sich auf den kalten Küchenfußboden, um den Rücken zu entspannen. Wir erfahren nicht, wozu die Pillen dienen, die er gelegentlich einnimmt.

Immer wieder sieht man im Gegenlicht den kräftigen Nacken.

Atlas – darauf bezieht sich der Titel – ist entsprechend der griechischen Mythologie ein Titan, der von den Göttern bestraft wird, indem er an den Rand der Welt verbannt wird, das Himmelsgewölbe auf seinen Schultern zu tragen.

Walter Scholl trägt viele Lasten: … vergangene, aktuelle.

Bei einer Räumung begegnet er seinem Sohn Jan, den er 30 Jahre nicht mehr gesehen hat. Jan wohnt mit seiner jungen Frau Julia und seinem 4-jährigen Sohn in einem zum Abbruch bestimmten Haus. Alte Wunden brechen bei Walter auf. … „Familie“ ein Wort, das immer wieder leise auftaucht in diesem Film…

Walter kann sich nicht mehr raushalten. Er, der Schweigende, stellt – vereinzelt nur – Fragen. Er erzählt bruchstückhaft seine Vater-Sohn-Geschichte – wenn auch einem brutalen Arbeitskollegen, der doch auch nur ein Sohn in seiner kriminellen Welt ist.

Der Film führt uns in die Welt der Immobilienmafia. Er zeigt Armut, ist an manchen Stellen brutal und oft zärtlich in der Beschreibung der Menschen. Es wird insgesamt wenig gesprochen in der Männerwelt der hart arbeitenden Räumungspacker.

Frauen spielen, wenn überhaupt, nur am Rande eine Rolle. Doch in Julia, seiner „Schwiegertochter“, begegnet Walter einer warmherzigen Frau. Julia spricht. Sie drückt Ambivalenzen aus, nimmt zart Körperkontakt auf. Sie trägt eine rote Strickjacke in dem ansonsten farblos gehaltenen Film.

Ein tödlicher Unfall, (oder war es ein Suizid?), geschieht fast beiläufig. Zuvor ist ein Mord geschehen. Wir sind dabei, finden es stimmig, begleiten Walter Scholl durch die inneren und äußeren Dramen. Es findet eine Entführung statt, die vielleicht keine ist. Und immer schauen wir auf Walters Gesicht, hinter dessen Mimik sich so viele Gefühle verbergen, die uns in Kontakt zum Ort des eigentlichen Dramas der Geschichte bringen, zu Walters Innenwelt.

Am Ende gibt es leise Zeichen von Hoffnung. Das letzte Wort des Films: „Familie“.

Mechthild von Prondzinski

Filmempfehlung: „Atlas“, ein Film von David Nawrath (2018)
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