Eine Menschheitsgeschichte

München (Siedler Verlag, 2020), 527 Seiten, 25,00 €.

Das Buch bekam ich geschenkt. Ich fragte mich, welchen Gewinn soll es bringen? Ich weiß doch schon vieles, habe eine Meinung und Einstellung, habe ein wenig auch die ständige Beschäftigung mit dem Thema satt. Ich fing trotzdem an. Die Einleitung brachte das Thema, seine Relevanz für heute wieder nah, über „Geschichten“ auch gefühlsmäßig nahe.

Die ersten beiden Kapitel „Begriffsklärung“ und „Die endlose Geschichte der Flucht“ brachten Neues.

Die unterschiedlichen Worte, die gefunden wurden und zu je anderen Zeiten anders gebraucht wurden; die Verharmlosungen, die damit verbunden wurden; die Abgrenzungen und Identifikationen betroffener Menschen, Selbst- und Fremdzuschreibungen; die heutig gängige Definition der Genfer Flüchtlingskonvention, die der Autor schon wieder um Menschen erweitert, die um ihrer sexuellen Orientierung willen verfolgt, vertrieben werden und fliehen. Die Fülle an Aspekten, die im Sprachgebrauch sichtbar wurden und werden, öffnete eine Weite, die erschlägt und fasziniert. Flucht, Vertreibung, Deportation, Emigration, Exil, ethnische Säuberung, Umsiedlung, Aussiedlung – es geht um die Tatsache, dass Menschen ihre Heimat verlassen, weil ihr Leben bedroht ist.

In einem geschichtlichen Aufriss – ein Viertel des Buches – zählt Andreas Kossert, neben dem biblischen Grundbild, alle Vertreibungen seit dem 14. Jahrhundert auf, beginnend mit der Vertreibung der Jüdinnen und Juden aus dem Spanien der Reconquista. Die Zusammenstellung bringt neue Erkenntnisse, z. B. die Vertreibungen im Kaukasus durch das Zarenreich, der Sklavenhandel mit Afrikaner*innen, die Vernichtung der nordamerikanischen Ersteinwohner*innen, und erschlägt durch die brutale Fülle. Flüchtlinge immer und überall!

Die nächsten Kapitel beleuchten die verschiedenen Aspekte des Flucht- und Vertreibungsgeschehens: Weggehen – Ankommen – Weiterleben – Erinnern – Wann ist man angekommen? Die Seiten leben von Berichten betroffener Frauen und Männer, immer gleich und immer neu. Manchmal wurde es mir zu viel, zu gleich, zu lang. Trotzdem konnte ich nicht aufhören.

Am Ende war ich erschöpft, erschlagen, leer, bereichert, betroffen, resigniert, mit Tatendrang.

Mein Hirn hat einiges bekommen, aber viel mehr mein Herz!

Bruno Gitttinger

Andreas Kossert: Flucht
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