Ein Leben in Geschichten

München (dtv), 224 Seiten, 22,00 €.

Über dieses Buch ist seit seinem Erscheinen in den Feuilletons der großen Zeitungen so viel Gutes, Richtiges, Treffendes geschrieben worden, dass es nicht leichtfällt, noch etwas zu ergänzen. Die Schriftstellerin Helga Schubert, 80 Jahre alt geworden, hat die meiste Zeit ihres Lebens in der ehemaligen DDR gelebt. In diesem hier empfohlenen Buch hat sie ihr „Leben in Geschichten“ erzählt und uns damit Erinnerungen im besten Sinne des Wortes, innere Verarbeitung von eigenen Erlebnissen, von privaten und politischen Erfahrungen geschenkt.

Ich muss sagen, dass mich schon die erste Geschichte fasziniert hat. Die Sommerfrische einer jungen Schülerin, ein sonniger Nachmittag in der Hängematte im Garten der Großmutter bei warmem Streuselkuchen und Muckefuck wird untertunnelt von der Erinnerung an den Anruf der Mutter, die nach den Zeugnisnoten fragt: „und warum hast Du da keine Eins?“ Bis zum Ende des Sommers bleibt sie wie jedes Jahr bei der Großmutter: „So konnte ich alle Kälte überleben“.

Was hier so beiläufig eingeführt wird, zeigt sich in den späteren Geschichten: die Mutter ist durch den frühen Tod des Ehemanns, der im Krieg von einer Granate zerfetzt wurde, hart geworden und das Kind lebt damit, wegen der Arbeitsplatzwechsel der Mutter ständige Schulwechsel zu ertragen. „Ich habe so viele Ursprünge, meine Wurzeln trage ich als Drachenschwanz verborgen in mir …“. Da bleibt die Hängematte im Garten der warmherzigen Großmutter der sommerliche „Sehnsuchtsort“.

Es kommt so einfach daher und „hat es in sich“, dieses Buch. Das Lakonische, aber auch das Abgründige in wenigen Sätzen, das beherrscht Helga Schubert brillant. Ob sie sich als DDR-Schriftstellerin gefühlt habe, wird sie von einem deutschen Literaturprofessor „kürzlich“ gefragt und sie antwortet in dieser Erzählung mit der Beschreibung von kleinen Szenen, die deutlich machen: ja sicher hat sie sich für den „Tümpel“ DDR geschämt, der in der großen Weltliteratur so wenig bedeutet hat, aber sie hat sich doch zum großen Strom der deutschen Schriftsteller gezählt … und wieder dies Gefühl, das sich beim Lesen einstellt: man sieht sie im Text freundlich lächeln, und gleichzeitig entlarvt sie die Hybris im Blick der Anderen auf ein Leben in der DDR.

Helga Schubert hat als Psychotherapeutin gearbeitet – man spürt das beim Lesen immer wieder: den genauen, den präzisen und realitätsgewandten Blick, aber auch das Wohlwollende. Sie übte im Leben das Verstehen und sie hat sehr schöne Worte für den versöhnlichen Blick zurück in ihr eigenes Leben gefunden, sie kann das einfach gut: Dinge in der Schwebe halten …

Bernadette Grawe

P. S.: Ganz besonders treffend fand ich die Rezension von Theresa Hübner im SWR.

Helga Schubert: Vom Aufstehen
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