Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft

Freiburg (Herder Verlag, 2020), 288 Seiten, 48,00 €.

Der Tod als Zahl oder Memoria Passionis

Die Reduktion der Toten auf eine Zahl, ob im Holocaust, bei den Ertrinkenden im Mittelmeer oder in der Coronakrise, ist die menschliche Kapitulation vor diesem existentiellen Ereignis. Die Geste des Bundespräsidenten, eine Kerze zum Andenken an die Toten der Corona-Krise ins Fenster zu stellen oder Hinterbliebene zum Gespräch ins Präsidialamt einzuladen, waren Momente der Erleichterung, da sie das Sterben der Statistik entzogen haben.

Die Frage, die mich grundsätzlich bewegt, heißt: Wie können wir angesichts des Leids, näherhin der Tausende meist unschuldiger Opfer um uns herum in unserem eingelebten Luxus (achselzuckend) weiterleben, ohne uns dieser Situation zu stellen und zu versuchen, Wege des Umgangs mit dem Leid zu finden?

Um den üblichen Missverständnissen vorzubeugen, geht es mir nicht darum, unser gutes Leben nicht mehr zu leben; es geht auch nicht um das Wecken von Schuldgefühlen durch Moralisieren, es geht allerdings auch nicht um billige Rationalisierungen mit dem Verweis, dass die Menschen halt so sind und man die Welt, wie sie ist, aushalten muss, sondern es geht um eine Realität, für die wir Verantwortung haben, weil wir Teil der Gesellschaft sind, die diese Verhältnisse produziert. Wie können wir diese Verantwortung wahrnehmen?

Mich brachte ein Text (Memoria Passionis, Freiburg 2006) des kürzlich verstorbenen politischen Theologen Johann Baptist Metz (Münster) auf eine Spur, die ich für bedenkenswert halte. Er sagt, dass wir die Erinnerung an das Leid und die Toten aufrechterhalten müssen; denn nur so können wir ihre Würde bewahren oder wiederherstellen. Erinnerung ist nicht als ad-hoc-Gedanke oder punktuelles, vielleicht sogar zufälliges Ereignis zu verstehen, das auf den Welttrauertag oder auf das Gedenken an den Holocaust beschränkt bleibt, sondern eine Dimension, die die permanente Erinnerung an die Getöteten erhält und aus dieser Erinnerung die Gegenwart gestaltet. Das ist das Fundament seiner politischen Theologie. Eigentlich könnte das menschliche Leid eine alle Menschen verbindende Kategorie sein, da uns alle der Wunsch nach dem Leben und die Auseinandersetzung mit dem Tod eint.

Was verbindet die Ermordeten in den Konzentrationslagern von damals mit den Sterbenden im Jemen und im Sudan und den Ertrinkendem im Mittelmeer heute? Die schwache Autorität des Leidenden ist die einzige universale Autorität, die in unseren globalisierten Verhältnissen geblieben ist. Die Anerkennung dieser Autorität der Leidenden ist in negativer Form die Anerkennung der unantastbaren Würde des Menschen. Die rein gattungsgeschichtliche Begründung der Menschenwürde wird damit überstiegen. (173/74)

Gibt es an den Grenzen der Moderne noch Institutionen, die sich als akkumulierte Erinnerungen, als Bereitstellung einer Erinnerung begreifen, dass sie das von ihnen repräsentierte Gottesgedächtnis im Eingedenken fremden Leids durchbuchstabieren zur Strukturierung diffuser, rein diskursiver unbeherrschbarer Lebenswelten, religiöse Institutionen also, die gerade dadurch ihren freiheitsrettenden Kern bewahren? (196)

Der Blick Jesu geht nicht zuerst auf die Sünden der Menschen, sondern er gilt dem Leid der Anderen. Sünde ist nicht zuletzt die Verweigerung der Teilnahme am Leid der Anderen. Nicht Sündenempfindlichkeit, sondern Leidempfindlichkeit ist gefragt. (163–165)

Diese Leidempfindlichkeit hat nichts zu tun mit Wehleidigkeit, nicht mit einem tristen Leidenskult. Sie ist der unsentimentale Ausdruck jener Liebe, die Jesus meinte, wenn er von der unzertrennlichen Einheit von der Gottes- und Nächstenliebe sprach. Metz nennt es Compassion, also Mitleidenschaft, kein vages Mitgefühl, sondern Mitleidenschaft als verpflichtende Wahrnehmung fremden Leids, als tätiges Gedenken an das Leid der Anderen.

Der Geist der Compassion will: Inspiration und Motivation für eine neue Friedenspolitik sein. Anstiftung zu einer Politik der Anerkennung. Symmetrische Anerkennungsverhältnisse im aufgeklärten Diskurs reichen nicht aus, sondern bedürfen erst der Zuwendung des Einen zu dem ausgegrenzten und vergessenen Anderen, also asymmetrische Anerkennungsverhältnisse, die Autorität der Leidenden als die innere Autorität eines globalen Ethos, einer Weltmoral und

gegen einen politischen Pragmatismus, der sich vom Leidensgedächtnis lossagt und moralisch erblindet. (166–171)

Das ist eine politische Perspektive, die in weitem Bogen durchaus mit der auf uns selbst gerichteten Frage verbunden werden kann, wie wir als Supervisor*innen und Berater*innen mit dem Leid unserer Klienten umgehen. Ich möchte mich hier nicht mit den oft wenig befriedigenden Antworten humanwissenschaftlicher Provenienz auseinandersetzen, sondern den originären theologischen Beitrag von Metz zum Umgang mit Leid und Tod bevorzugen. Unabhängig davon, ob man diesen Gedanken weiterverfolgt, bleibt es unsere individuelle, gesellschaftliche und politische Verantwortung, mit dieser Realität des Leidens umzugehen, sich mit ihr auseinanderzusetzen und Wege zu finden, die das tagtägliche Vergessen verhindert. Wie das sinnvoll geschehen kann, darüber ist nachzudenken, aber es ist nicht leicht, darüber zu reden und sich auszutauschen. Wie kann das menschlich verursachte Leid und der von Menschen zu verantwortende Tod der Anderen in der alltäglichen gesellschaftlichen und politischen Gestaltung unseres Lebens Raum gewinnen?

Die Rolle, die unsere gesellschaftlichen Institutionen in diesem Prozess wahrnehmen, muss kontrovers diskutiert werden, vor allem wie institutionelle und individuelle Verantwortung in Korrespondenz zu bringen sind. Denn wer Verantwortung hat und sie nicht wahrnimmt, macht sich für seinen Teil der Verantwortung mitschuldig. Die Auseinandersetzung mit dieser Schuld könnte der Impuls zur Metanoia (Veränderung) sein.

Halten wir Gott deswegen nicht stand, weil wir dem Abgrund unserer Schulderfahrung und unserer Verzweiflung nicht standhalten? Weil sich unser Bewusstsein vom Unheil verflacht, weil wir uns die geahnte Tiefe unserer Schuld, diese Transzendenz nach unten, verbergen, weil wir sie uns heute gerne ideologiekritisch oder psychoanalytisch ausreden lassen. (183/84) Die Versuchung ist groß, sie einem Sündenbock aufzuladen, um sich selbst zu rechtfertigen.

Bei der sehr empfehlenswerte Lektüre dieses Buch findet man höchst interessante Abhandlungen über den Umgang mit der befristeten und fristlosen Zeit, über die anamnetische Vernunft im Wissenschaftsdiskurs und über die religionsfreundliche Gottlosigkeit.

(Die Seitenangaben beziehen sich auf wörtliche oder paraphrasierte Textpassagen aus Memoria Passionis)

Prof. Dr. Wolfgang Weigand

Johann Baptist Metz: Memoria Passionis
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