Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe an Supervision Interessierte,
etwas später als sonst, aber zum Glück noch rechtzeitig vor den Weihnachtstagen, erreicht Sie unser 2. Newsletter des Jahres 2022, der mit interessanten Beiträgen zur Auseinandersetzung mit einem aktuellen fachlichen Thema einlädt.
Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre haben wir uns intensiv mit der supervisorischen Haltung und einer damit verbundenen professionellen Identität auseinandergesetzt. Sie zu entwickeln war das erklärte Ziel der FiS-Supervisionsausbildung. Dabei beschäftigte die Frage, was einen guten Supervisor, eine gute Supervisorin kennzeichnet, welche Kompetenzen zu erwerben sind, um eine solche Haltung entwickeln zu können, und welche Ausbildungskonzepte einen solchen Entwicklungsprozess fördern können. Dabei ging es um die Integration psychoanalytischer, gruppendynamischer und organisationsanalytischer Konzepte, um Kompetenzen wie Reflexions- und Selbstreflexionsfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Fähigkeit zu Empathie und Abgrenzung, zur Ich-Spaltung, um Ambiguitätstoleranz und zugewandte Konfrontation. Das Ausbildungskonzept musste dafür angemessene Lernräume zur Verfügung stellen und neben der theoretischen Auseinandersetzung und methodischem Lernen einen kontinuierlichen Selbsterfahrungsprozess ermöglichen, der individuelle Entwicklung und Erfahrungslernen in institutionellen Strukturen förderte. Wir haben das damals einen tertiären Sozialisationsprozess genannt.
Inzwischen hat die Integration wissenschaftlicher Theorien in der Supervisionsszene an Bedeutung gewonnen, und in diesem Kontext ist das Konzept des Habitus in den letzten Jahren auch im Rahmen der Supervisionsausbildung wichtig geworden. Innerhalb der DGSv gab und gibt es eine lebendige Auseinandersetzung um „exzellente Supervision“ und den supervisorischen Habitus.
Man kann diese Theorie durchaus als Bestätigung, Erweiterung, Konkretisierung und theoretische Begründung dessen, was wir damals mit der supervisorischen Haltung meinten, verstehen. Habitus (und im Rahmen der Supervisionsausbildung ein professioneller Teilhabitus) meint in diesem Sinn in einem Sozialisationsprozess erworbene und internalisierte innere Dispositionen, die es erlauben, rollenangemessen auf die vielfältigen Anforderungen in konkreten Supervisionsszenen zu reagieren.
Insofern ist es uns ein Anliegen, mit den Beiträgen dieses Newsletters sowohl eine Gelegenheit zu bieten, sich mit der Habitustheorie, als auch mit ihrem Platz in der Supervisionsausbildung auseinanderzusetzen. Dabei haben wir unseren Focus besonders auf Lehrsupervision und Balintgruppe als (neben den Kurseinheiten) wesentliche Lernorte zur supervisorischen Habitusentwicklung gelegt.
Einen guten Einstieg in das Thema ermöglicht ein Vortrag, den Bernadette Grawe im Mai 22 anlässlich der Kompasstage der DGSv gehalten hat und in dem sie uns kompetent und gut verständlich auf dem Weg ihrer Auseinandersetzung mit den theoretischen Grundlagen des Habituskonzepts mitnimmt, „Was ist ein Habitus? Die soziale Welt führt ein Doppelleben“.
Hinweisen möchten wir auch auf den Artikel von Bernadette Grawe und Miquel Aguado als Autor*innen des Band 1 der neuen Reihe „In-puncto-Standards“. Mit ihrem Text „Professionalisierter supervisorischer Habitus – Professionstheoretische und curriculare Überlegungen“ eröffnen die beiden diese Reihe. Der Text dient als Grundlagentext für die gesamte Diskussion des Habituskonzepts und bietet damit auch für Anbieter*innen von Supervisionsausbildungen wichtige Denkanstöße. Der Text ist auf der Seite der DGSv abrufbar oder mit dem folgenden Link: https://www.dgsv.de/wp-content/uploads/2021/03/In-puncto-Standards_1_Habitus.pdf
Wolfgang Dinger beschäftigt sich in seinem Impulsreferat, das er im Juni 22 während einer DGSv-Tagung für Weiterbildungsanbieter hielt, mit den Orten der Habitusentwicklung innerhalb der Superisionsausbildung, dem Habitat. Er macht die Bedeutung dieser Lernorte, die immer auch konflikt- und krisenhafte Auseinandersetzungen beinhalten müssen, wenn sie Habitualisierungen ermöglichen sollen, deutlich: „Das Habitat – Zur Bedeutung des organisatorischen Rahmens einer Qualifizierung“.
Lehrsupervision wurde von uns immer als ein „Herzstück“ der Supervisionsausbildung bezeichnet. Sie begleitet die angehenden SupervisorInnen während der gesamten 3 Ausbildungsjahre und wird so – neben den gruppendynamisch konzipierten Kursabschnitten – zu einem zentralen Ort der Habitusentwicklung. In den folgenden Beiträgen setzen sich 4 LehrsupervisorInnen mit unterschiedlichen Aspekten der Lehrsupervision als Habitat auseinander:
- Roland Helsper: „Ein großer emotionaler Spagat: Die Diskrepanz zwischen einem erfolgreichen beruflichen Habitus im Herkunftsberuf und der Rolle des Lernenden in der Supervisionsausbildung“
- Klemens Kötter: „Woran erkennen wir Lehrsupevisoren, dass die Lehrsupervisanden eine supervisorische Haltung entwickeln. Habitusbildung in der Lehrsupervision“
- Gabriele Streitbürger und Hildegard Weigand: „Ich bin noch nicht, ich werde erst Supervisor*in“.
Ergänzt werden diese Reflexionen durch die Sichtweise einer (ehemaligen) Lehrsupervisandin, Beate Pihale, die ihren persönlichen Weg der Habitusentwicklung im Rahmen der Supervisionsausbildung und Lehrsupervision beschreibt „Die Bildung eines professionellen Habitus im Rahmen der Lehrsupervision“.
In allen Beiträgen wird das komplexe Lernen, das mit tiefen Verunsicherungen, Konflikten, Übertragungsprozessen und Krisen einhergeht, spürbar. Nur auf der Basis solcher Persönlichkeitsentwicklungen kann sich ein professioneller Habitus entwickeln, der dann in der supervisorischen Praxis rollenangemessenes Reagieren auf vielfältige komplexe Anforderungen ermöglicht.
Ein weiteres wichtiges Habitat im Rahmen der Supervisonsausbildung stellt die Balintgruppe dar. In ihrem Text „Von Fingerringen und dem Umgang mit Gegenübertragungsgefühlen“ benennt Mechthild von Prondzinski in der Rolle einer Balintgruppenleiterin wichtige Inhalte supervisorischer Habitusentwicklung. Dabei ist ihre Freude spürbar, diese Entwicklungen im Rahmen der Balintgruppe erleben zu können.
Buchbesprechungen
2022 erschien das neue Buch von Gerhard Wittenberger – eine umfangreiche historische Studie, deren Bezüge zu aktuellen institutionellen Praktiken man beim Lesen entdecken kann. Wir haben uns gefreut, dass uns gleich zwei Rezensionen erreicht haben:
- „Aufstieg und Scheitern des Militärpsychologen Max Simoneit im Dritten Reich und in der Bundesrepublik Deutschland“ Rezension von Georg Pahlke
- „Aufstieg und Scheitern des Militärpsychologen Max Simoneit im Dritten Reich und in der Bundesrepublik Deutschland“ Rezension von Thomas Kuchinke
Und damit es für die langen Winterabende auch noch ein bisschen leichtere Kost zum Genießen und Entspannen gibt, hier eine bunte Mischung von Büchern, die wir in den letzten Wochen und Monaten gelesen haben und gern weiterempfehlen:
- „Gedichte, die glücklich machen“, Herausgegeben von Clara Paul, Inselverlag, 18. Auflage 2022.
Gedichte, deren Verfasser zur großen Literatur gehören und die durch ihre fröhlichen, tröstlichen, wehmütigen und ermutigenden Inhalte Freude beim Lesen bereiten. - „Kummer aller Art“, Mariana Leky, Dumont 2022
Die literarischen Texte (ursprünglich als kleine Kolumnen in der Zeitschrift „Psychologie heute“ veröffentlicht) erinnern auf eine lebendige, humorvolle Weise daran, dass es neben den großen Sorgen dieser Zeit auch den kleinen, alltäglichen Kummer gibt. Es tut gut, sich zur Abwechslung einmal damit zu beschäftigen. - „Ich kann Dich hören“, Katharina Mevissen, btb Verlag 2021
Ein Buch, in dem es um Musik, um Zuhören, um die Verarbeitung kindlicher Traumata, um Selbstfindung geht. Ein Buch, das berührt und einen neuen Zugang zu der Kraft von Musik ermöglicht. - Und Krimiliebhaber*innen, die einen Sinn für Skurriles, für kluge und verrückte Gedankenkonstuktionen, für warmherzigen Humor und für das besondere Flair von Sizilien haben, werden Tante Poldi ins Herz schließen und sich auf jeden neuen Band der Krimireihe mit inzwischen 5 Büchern freuen: „Tante Poldi und …“, Mario Giordano, Bastei Lübbe 2015–2022
Gerne weisen wir auch auf unseren Programm-Flyer 2023 hin und auf die nächsten Veranstaltungen:
- Forschungsreise Balintgruppe – Rüstzeug für die Expedition ins (noch) Unbekannte.
Am 04.03.2022 (10:00–17:00 h) im Institut für Psychoanalyse, Kassel
Leitung: Dr. Bernadette Grawe, Petra Schimmel - Die Dynamik von Teams und Gruppen
Workshop für Gruppenleiter*innen, Berater*innen, Supervisor*innen, Coaches
Am 13.05.2023 (10:00–17:00 h) in Münster
Leitung: Dr. Monika Maaßen
Die ausführlichen Beschreibungen und weitere Angebote sind abrufbar unter: https://fis-supervision.de/aktuelles/programm-flyer-2023/
Bedanken möchten wir uns bei Ulrike Wachsmund für ihre anregende Mitarbeit in der Redaktion dieses Newsletters.
Wir wünschen Ihnen – trotz aller Belastungen dieser Zeiten – entspannte, genussvolle und beziehungsreiche Weihnachtstage und einen Jahreswechsel, der gegen alle Zukunftssorgen Hoffnung und Zuversicht setzt. Und natürlich wünschen wir Ihnen und uns, dass Sie in dieser winterlichen Zeit mit Lust und Interesse unsere – wie wir finden – anregenden Newsletterbeiträge lesen.
Redaktion: Dr. Monika Maaßen, Ulrike Wachsmund, Inge Zimmer-Leinfelder