„Das Fremde im Vertrauten – Innere und äußere Verunsicherungen in Supervision und Beratung“ – unter diesem Titel fanden die FiS-Tage 2022 in Münster vom 30.4. bis zum 1.5. statt. Und er war gut gewählt. Das Fremde im Vertrauten war konkret genug, um gezielte Impulse und Denkanstöße zu geben, und zugleich auch offen genug, um jeder/m Anlass zur eigenen Bestimmung des Vertrauten, aber auch des Fremden zu sein.

Die circa 70 Teilnehmer*innen – mittlerweile gut geübt im Umgang mit Maske und Abstand – wurden begrüßt von Frau Inge Zimmer-Leinfelder (für das FiS), von Frau Dr. Annette Mulkau (von der DGSv) und Frau Maria Kröger (vom Franz Hitze Haus). Die Freude, diese Tage in Präsenz eröffnen zu dürfen, war bei den Organisatorinnen und Teilnehmer*innen deutlich spürbar, zumal die FiS-Tage 2020 aufgrund der Pandemie ausfallen mussten.

Im Flyer zu diesem FiS-Tagen stand unter anderem die Frage „was werden wir zum Zeitpunkt der Tagung hinter uns gelassen haben, welchen Fragen werden wir uns stellen müssen?“ Dass neben dem Umgang mit der Pandemie und ihren Folgen zusätzlich ein Kriegsgeschehen in Europa zu neuen äußeren und auch inneren Unsicherheiten führen würde, war wohl kaum vorstellbar und zeigt einmal mehr, wieviel Anpassungsleistung im Umgang mit Unerwartetem und auch Schwierigem aktuell gefordert ist. Wie gut, dann mit den Supervisionstagen einen Raum zur Reflexion zu haben. Zum einen für die Reflexion eigener Unsicherheiten und Ängste, zum anderen für die Reflexion der aktuellen Einflüsse in der supervisorischen Arbeit. Aber auch das neu Gelernte zu beleuchten, u.a. die neuen technischen Möglichkeiten mit allen Facetten, das Wissen um die Bedeutung von Nähe, neue medizinische Kenntnisse …

Der beeindruckende Vortrag „Selbst- und Fremdverstehen zwischen Krisen und Routine“ von Prof. Dr. Mechthild Bereswill aus Kassel in soziologisch-wissenschaftlicher und zugleich sehr verständlicher Sprache hat die Teilnehmer*innen zum einen durch die persönliche Leidenschaft der Dozentin für das Thema eingefangen wie auch durch die Genauigkeit in der Begrifflichkeit. Verstehen als Annäherungsprozess zu sehen, eröffnet auch das Bewusstwerden des Anteils des Nicht-Verstehens. Vom Intersubjektiven zum Intrasubjektiven zu gehen eröffnet die Chance  zur Entschlüsselung des Nicht-Verstehens. Das vertraute Format der Resonanzgruppen schloss sich an den Vortrag an und reduzierte schon einen ersten Teil des vielleicht noch Fremden.

Und – wie immer im Leben – gibt es Gleichzeitigkeiten von Beschwerlichem und Schönen. Die ersten FiS-Tage fanden 1987 statt, so dass in diesem Jahr ein 35-jähriges Jubiläum gefeiert werden konnte. Es gab wunderbar verzierte, köstliche Torte mit dem FiS-Logo und der Zahl 35 aus Schokolade. Und in berührender Weise überreichten Monika Maaßen und Bernadette Grawe 35 rote Rosen an Inge Zimmer-Leinfelder für ihre engagierte und herausragende Arbeit im FiS, die diese und den langanhaltenden, wohlverdienten Applaus gerührt entgegennahm.

Am Nachmittag stand der Film „Die Wand“ (Verfilmung des gleichnamigen Romans von Marlen Haushofer) auf dem Programm. Mit seiner eindrücklichen Weise, den Zuschauer in innerer Spannung zu halten und in die zum Teil surreal wirkenden Bilder, die Angst, Bedrohung, Verlustängste und Einsamkeit ausdrücken, ermöglicht der Film dem, der sich darauf einlässt, ein intensives Spüren der verschiedenen Gemütszustände der Protagonistin. Gerahmt von Herrn Baumann, der in den Film eingeführt und im Anschluss seine Analyse zur Verfügung gestellt hat, konnten die einzelnen Beiträge der teilnehmenden Zuschauer*innen helfen, mit verschiedenen Wahrnehmungen und Interpretationen die Spannung zu lösen und auch neue Verstehenszugänge zu ermöglichen.

Mit einem lockeren Zusammensein endete der erste Tag. Wo an dieser Stelle an früheren FiS-Tagen die Tanzfläche eröffnet wurde, war jetzt immerhin ein gemütlicher Abend mit viel Austausch möglich.

Am Sonntag gab Prof. Dr. Jochen Bonz unter dem Titel „Das Fremde verstehen wollen“ Einblicke in seine Arbeit mit Supervisionsgruppen für ethnographisches Feldforschen. Erinnerte die Arbeit zum Teil an Balintgruppenarbeit, so gab es doch auch deutliche Unterschiede zu erkennen. Auch durch diesen Vortrag angefüllt, gab es im Anschluss in den jeweiligen Resonanzgruppen lebhafte und vom Diskurs getragene Gesprächsrunden.

Mit einer Podiumsdiskussion über das Gehörte, das Reflektierte, das – wie einige Teilnehmer*innen es beschrieben – Verdaute, gingen die FiS-Tage 2022 zu Ende. Bei allem Befremdlichen, in der Auseinandersetzung mit Unsicherheiten, auch dem Auf-sich-zurückgeworfen-Sein, gelingt der Blick auf Gelerntes, neu Verstandenes, miteinander Reflektiertes, auf Anpassungsfähigkeiten, auf Entwicklungen. Mit einem Gefühl, sich in einem gemeinsamen, grundlegenden Verständnis von Supervision begegnet zu sein und an einem Ort des Austausches auf hohem Niveau und in menschlich sehr toleranten, diskursfähigen Begegnungen miteinander gearbeitet zu haben, verabschieden sich die Teilnehmer*innen nach einem gemeinsamen Mittagessen, erfüllt von vielen neuen Impulsen, gestärkt durch gemeinsam Reflektiertes und ermutigt durch das Verbindende.

Verstehen als Annäherung

Brigitte Benzenhöfer

Gesundheits- und Krankpflegerin, Diplom-Pädagogin, Metaplan Professional, Supervisorin (DGSv)

Verstehen als Annäherung