Berlin (Suhrkamp Verlag, 2021), 130 Seiten, 10,00 €

Als ich das Buch in einer Buchhandlung sah, wurde ich neugierig, weil ich mich an Herrn Rosa als angenehmen und unterhaltsamen Referenten bei FIS-Tagen erinnerte; dann aber auch, weil ich die Unverfügbarkeit des Lebens in meinem doch schon hohen Alter schmerzhaft erlebe.

Als Soziologe fragt? Herr Rosa danach, wie Menschen miteinander und in ihrer Welt leben, ob es da Gesetzmäßigkeiten und Regeln gibt, was sich daraus für Handlungsmöglichkeiten ergeben. Klar ist, dass die Welt für den Menschen erreichbar sein muss, um in und mit ihr leben zu können.

In diesem Buch arbeitet er zur These, dass besonders im 21. Jahrhundert der Bezug vieler Menschen zur Welt aggressiv ist, geprägt vom Wunsch, sie nicht nur zu erreichen, sondern sich die Welt verfügbar zu machen:

  • die Erkenntnis dessen, was da ist, auszudehnen,
  • alle Bereiche erreichen zu können,
  • alles unter Kontrolle zu bringen
  • und sie für „unsere“ Zwecke nutzbar zu machen.

Viele Menschen leben nicht mehr in einer „Beziehung“ zur Welt, sondern machen sie zum verfügbaren Objekt.

Dagegenstehen aber auch Erfahrungen, dass sich die Welt dem entzieht, nicht mehr so einfach verfügbar erscheint, ein Stück weit verstummt und eher als bedrohlich erlebt wird.

Gibt es einen Weg, zu einer „bezogenen Weltbeziehung“ zu kommen?

Beziehung ist für Hartmut Rosa – dabei im Gespräch mit den führenden Soziologen des 19. und 20. Jahrhunderts – : hören und gehört werden, sehen und gesehen werden, berühren und berührt werden, Anverwandlung statt Entfremdung (Marx), Verlebendigung statt Verdinglichung (Adorno), Weltgewinn statt Weltverlust (Arendt), Verstehbarkeit statt Unleserlichkeit (Blumenberg), Beseelung statt Entzauberung (Weber).

Die Thesen, die Begründungen, die möglichen Folgerungen für das Handeln entwickelt Herr Rosa in einem gefälligen, fast plaudernden Erzählton. Mir fiel kaum auf, wie viel Mühe ich mit der soziologischen und „Rosa“-eigenen Begrifflichkeit hatte, da er die „Theorie“ immer auch an Alltagserfahrungen knüpfte. Mir gefielen besonders die vielen Beispiele aus der Musik. Wie oft entfuhr mir ein „genauso!“, aber auch ein „So kann man das ja auch sehen!“?

Am Ende blieb ich eigenartig getröstet und ungetröstet zurück.

Eine „bezogene Weltbeziehung“ kann möglich sein, wenn das Entweder-Oder überwunden wird.

Getröstet, weil ich etwas dafür tun kann und Aussicht auf eine beglückende, wenn auch vielleicht anstrengende Beziehung besteht.

Ungetröstet, weil viele Fragen offenbleiben. Wie wird daraus gemeinschaftliches Handeln? Behalten partikuläre Machtinteressen die Überhand? Reichen die verschiedenen Katastrophen – Klimawandel, Finanzkrisen, Großmachtgehabe, Weltseuche o.a. – für ein Umdenken und Gegensteuern? Kann ich als Einzelner etwas bewirken? Woher kommt der Anstoß? Welche Gruppe steht dafür auf? steht dafür ein?

Vieles zeigte mir einen möglichen Ausweg aus der Verführung, die Welt verfügbar machen zu müssen. Aber ich war mir nicht ganz sicher, ob ich diesen Weg auch gehen will. Beziehung kann beglückend, aber auch anstrengend sein.

Bruno Gittinger

Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit
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