Führung und Krise ist ein Begriffspaar, das gerne zusammen auftritt. Krisen gehören zu den Phänomenen, von denen Organisationen, Institutionen, Gesellschaften immer wieder betroffen sind, die entweder bewältigt werden oder in denen gescheitert wird. In Krisenzeiten bewähren oder verändern sich Organisationen oder sie verschwinden. Das bedeutet, es ist existentiell, es geht um viel.
In Krisenzeiten wecken die damit verbundenen Ängste und Bedrohungen Wünsche nach Sicherheit, Orientierung und Führung. Führungskräfte sind in Krisenzeiten daher besonders gefordert; die Erwartungen an sie sind hoch, das „Wohl und Wehe“ der weiteren Entwicklung wird gerne in ihre Hand gelegt. Alle Führungskräfte kennen vermutlich die mit diesen Erwartungen verbundenen Gefühle von Verantwortung, den damit verbundenen Stress, aber auch die Befriedigung, wenn es gelingt der Bedrohung positiv zu begegnen. Seit Anfang des Jahres 2020 erleben wir eine Krisenerfahrung, die für viele von uns eine neue Bedrohungsqualität hat. Die Corona-Pandemie ist eine globale Krise, die sich in allen Bereichen des Alltagslebens einschränkend und bedrohend auswirkt, es ist nicht möglich ihr zu entkommen. Auch die Versuche, ihr durch Ignorieren oder Verleugnen zu entfliehen, werden von den Fakten der gigantischen Erkrankungszahlen, den schweren Krankheitsverläufen und der Zahl der Toten ad absurdum geführt. Das Privatleben und das Berufsleben sind gleichermaßen aus der Normalität gerissen.
Uns interessiert in dieser Newsletter-Ausgabe (am Ende der dritten Welle, mitten im fortschreitenden Impfprozess) wie das Thema „Führen in der Krise“ von unterschiedlichen Personen wahrgenommen, erlebt und reflektiert wird. Acht Autor*innen haben wir gebeten, einen Beitrag zu formulieren, der ihre jeweilige Perspektive auf die Krise, Erfahrungen des Umgangs mit der Krise, Einschätzungen von Einflussfaktoren und eigenes Führungserleben skizziert. Es ist für mich sehr beeindruckend, dass die angefragten Autor*innen neben den vielen Aufgaben, die sie in dieser Pandemie versorgen, bearbeiten, bewältigen müssen, die Zeit gefunden und genommen haben, ihre Überlegungen und Erfahrungen hier zu Verfügung zu stellen. Allen sei dafür sehr herzlich gedankt!
Martin Bodin arbeitet als pädagogischer Geschäftsführer in einer großen Komplexeinrichtung für behinderte Menschen, die sehr unterschiedliche Zielgruppen anspricht und mit Arbeits-, Ausbildungs- und Wohnangeboten unterstützt. Er stellt den bisherigen (Führungs-)Weg durch die Krise vor.
Gerhard Haneklau beschreibt aus seiner Rolle des Geschäftsführers eines großen Medizinischen Versorgungszentrums in Münster die Herausforderungen, ein systemrelevantes Unternehmen bei Volllast durch die Pandemie zu steuern, immer unter der Infektionsbedrohung, die sich aus der Patient*innennähe medizinischer Behandlungen ergibt.
Stephan Kohorst und ich haben ein langes Gespräch per Zoom geführt, in dem es im Schwerpunkt um seine Rolle als Unternehmer eines mittelständischen Familienbetriebs geht, der Verantwortung für mehrere tausend Arbeitsplätze hat. In diesem Beitrag wird auch die Komplexität von Krisenmanagement sehr prägnant deutlich.
Linda Lieber bietet einen Perspektivwechsel an und beschreibt aus der Mitarbeiterinnensicht der Bildungsorganisation einer politischen Stiftung ihre Erfahrungen mit dem „Geführt-werden“. Der sehr persönliche Blick aus dem Inneren einer Organisation beleuchtet auch den in der Krise erlebten eigenen Entwicklungsprozess.
Dr. Lutz Lyding widmet seine Aufmerksamkeit den Veränderungen, die im Kontext der Pandemie die Arbeit von Supervisor*innen erfahren hat und welche Anforderungen an supervisorische Arbeit unter den einschränkenden Bedingungen gestellt wurden. In zwei Fallvignetten beschreibt er exemplarisch relevante Themenfelder, die in der Corona Zeit in Supervisionen immer wieder auftauchen.
Jakob Maser leitet als Diplom-Designer das Team „Kreation“ einer Werbeagentur und bringt Erfahrungen der Führung von Mitarbeiter*innen ein, die sich zum Großteil im Homeoffice befinden. Besonders die Unterschiede von Gesprächen mit Mitarbeiter*innen in Präsenz oder Online bieten interessante Anregungen für die eigene Praxis.
Wolfgang Pieper, hauptamtlicher Bürgermeister in Telgte, stellt die Komplexität der Führungsaufgabe einer kommunalen Verwaltung, der Netzwerkarbeit in einem großen Landkreis (Warendorf) und die Anforderungen an einen Repräsentanten einer Stadtgesellschaft in seinem Beitrag vor. Dabei wird besonders die Prozesshaftigkeit einer so lange anhaltenden Krise deutlich.
Ulrike Wachsmund und ihr Team „rocken“ normalerweise das Event- und Veranstaltungsleben der Stadt Emsdetten. Statt gefüllter Konzerthallen, Stadtfesten und dicht gefüllter Terminkalender stürzte der Lockdown sie von heute auf morgen ins „Nichts“. Wie man in der „Hölle des Nichts“ führt, stellt sie in ihrem Beitrag vor.
Lese- und Filmempfehlungen
Es ist eine Tradition des FIS-Newsletters, neben den themenbezogenen Artikeln auch Leseanregungen und Rezensionen vorzustellen. Sehr oft ergeben sich diese Empfehlungen aus der Nachfrage: „Was hast du denn gerade gelesen?“. So geben die Beiträge immer auch einen kleinen Eindruck wieder, welche Themen die Autor*innen gerade beschäftigen. Ich finde diese Form der vorgestellten subjektiven Lesevorlieben sehr charmant, bringt sie einen doch in Kontakt mit Büchern, die sonst vielleicht völlig unbemerkt an einem vorübergezogen wären. Fühlen Sie sich als Leser*in dieses Newsletters also durchaus aufgerufen, die anderen an einem Lesevergnügen, das Sie angesprochen hat, teilhaben zu lassen, indem Sie selbst mal hier etwas vorstellen.
Neu ist übrigens in diesem Newsletter erstmals eine Filmempfehlung:
Mechthild von Prondzinski stellt den Film „Atlas“ von David Nawrath vor. Es geht um Schuld, Verantwortung und Einsamkeit, aber lesen Sie selbst und vor allem sehen Sie anschließend selbst.
Das Thema „Flucht“ ist ein schweres Thema, das sich sicher nicht als Bettlektüre eignet. Bruno Gittinger beschreibt am Anfang des Beitrags etwas, das vielen bekannt sein dürfte: Auf das Thema hat man keine Lust. Aber dann packt das Buch von Andreas Kossert einen doch, wenn man versteht, dass es sich dabei um ein unendliches Menschheitsthema handelt, das seine Spur durch die Jahrhunderte zieht.
Ein „Leben in Geschichten“ stellt uns Bernadette Grawe vor. Es handelt sich um eine Veröffentlichung der Schriftstellerin und Psychotherapeutin Helga Schubert, die in diesem Buch den Leser*innen die innere Verarbeitung von eigenen Erlebnissen, von privaten und politischen Erfahrungen schenkt.
Dr. Jürgen Kreft stellt drei Bücher des Lyrikers, Essayisten und Übersetzers Philippe Jaccottet vor, der im Februar dieses Jahres im Alter von 95 Jahren verstorben ist. Die Schönheit und Einfachheit der Sprache ist eine Einladung für den einen oder anderen literarischen Spaziergang.
Um ein ganz anderes literarisches Material, ebenfalls von Dr. Jürgen Kreft vorgestellt, handelt es sich bei den Essays und Satiren von Robert Maxeiner. In ca. 40 Texten findet sich Anregendes, Nachdenkliches und auch das eine oder andere Provokante.
„Was Nina wusste“ lautet der Titel eines Romans von David Grossmann, den Maria Kröger uns ans Herz legt. Der Roman orientiert sich an der Lebensgeschichte von Eva Panic-Nahir, einer Freundin des israelischen Autors.
Schließlich regt Wolfgang Weigand zur relecture eines Werkes des Münsteraner politischen Theologen Johann Baptist Metz von 2006 an. Weigand greift den Titel „Memoriam passionis“ auf und bringt die Metz’schen Überlegungen mit unseren heutigen Katastrophen in Verbindung.
Liebe Leserinnen und Leser,
ich wünsche Ihnen anregende Lektüre, vielleicht das eine oder andere daraus entstehende Gespräch, kritische Auseinandersetzung, inspirierende Nachdenklichkeit. Teilen Sie den Newsletter gerne mit Menschen, die daran interessiert sein können. Sie finden unter den Beiträgen Links zu den Websites der Autor*innen und Emailadressen, wenn Sie in einen direkten Dialog mit den Autor*innen eintreten wollen. Bezüglich der Gendersprache akzeptieren wir die von den Autorinnen und Autoren jeweils gewählte Form.
Mir haben die Arbeit an diesem Newsletters, die Kontakte und Diskussionen mit den Autor*innen und die Überlegungen zu den Inhalten Freude gemacht und viel Nachdenken ausgelöst. Mir gefällt das neue Redaktionsmodell des FIS-Newsletters. Sie sind herzlich zu Feedback und Resonanz eingeladen.
Herzlichen Dank an die FIS-Verantwortlichen Dr. Monika Maaßen und Inge Zimmer-Leinfelder für das Vertrauen, diesen ersten Newsletter in neuer Form redaktionell betreuen zu dürfen.
Michael Faßnacht
(*1955), Dipl.-Psychologe, Dipl.-Theologe, Coach und Supervisor BDP, ausbildungsberechtigter Trainer für Gruppendynamik DGGO, 8 Jahre Vorstandsmitglied der DGGO, seit 2000 freiberuflich in eigener Praxis in Telgte tätig, Gesellschafter des Instituts für Gruppendynamik und Organisationsberatung (igo) Münster. — michaelfassnacht@tfbs.de — www.tfbs.de — www.igo-muenster.de